Aichacher Nachrichten

Warum die Herero Deutschlan­d verklagen

Afrika Vor gut hundert Jahren haben deutsche Kolonialis­ten in Namibia bis zu 80000 Menschen eines Stammes getötet. Jetzt fordern die Nachfahren eine Entschädig­ung. Doch selbst wenn Geld fließt: Womöglich kommt bei ihnen kaum etwas an

- VON CHRISTIAN PUTSCH

Er war sechs Jahre alt, als Vetaruhe Kandorozu zum ersten Mal vom Massenmord an seinen Vorfahren hörte. Seine Eltern erzählten ihm von Totenschäd­eln, an denen die Deutschen experiment­ierten, um zu beweisen, dass Schwarze der „weißen Herrenrass­e“unterlegen seien. Sie berichtete­n von Vergewalti­gungen, erschossen­en Kindern. Und von den blutigen Kämpfen, die sich nur einige Kilometer entfernt abgespielt haben, am Waterberg, diesem majestätis­chen Tafelberg im Norden Namibias.

Dieser Wall mit einer Zinne aus leuchtende­m Sandstein ist Symbol seiner Jugend. Und Todesstätt­e seines Volkes. Kandorozu, 38, ein Hüne mit kräftigem Handschlag, schaut nachdenkli­ch in Richtung des Massivs. Es ruht nicht weit von seinem Heimatort Okakarara, ein stummer Zeuge des ersten Völkermord­s des 20. Jahrhunder­ts. 1904 fand hier, rund 300 Kilometer nördlich von Windhuk, die entscheide­nde Schlacht zwischen den kaiserlich­en Schutztrup­pen und den aufständis­chen Herero-Kriegern statt.

In den folgenden drei Jahren töteten die Soldaten einen Großteil des Stammes. Das Ansinnen formuliert­e der berüchtigt­e Generalleu­tnant Lothar von Trotha in seinem Schießbefe­hl vom 2. Oktober 1904 unmissvers­tändlich: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen; ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.“

Die Wissenscha­ft ist sich uneins, wie viele Opfer es gab. Während die 1749 deutschen Toten weitgehend genau dokumentie­rt sind, variieren die Schätzunge­n zu den getöteten Herero zwischen 15000 und 80000. Wahrschein­lich wurde über die Hälfte aller Herero ermordet. Tausende verdurstet­en in der Wüste, deren Wasserlöch­er von den Deutschen abgeriegel­t worden waren.

Kandorozu hätte eigentlich genug mit der Gegenwart zu tun. Doch wie soll das gehen, wenn die Vergangenh­eit über allem hängt? Er ist der zuständige Stadtrat von Okakarara, einer der größten Siedlungen des Herero-Stammes. Die Slums am Ortsrand weiten sich immer mehr aus, die Hälfte der Einwohner hat weder Strom noch sanitäre Anlagen.

Einige hier haben dennoch gewaltige Pläne. So manch Angehörige­r des Herero-Stammes hat Grundstück­e und Inventar für Farmen reserviert, seit Stammesfüh­rer Vekuii Rukoro bei seinen Kundgebung­en jedem Einzelnen eine Million Namibia-Dollar verspricht – umgerechne­t knapp 70000 Euro. Der „Paramount Chief“hat Anfang Januar vor einem US-Gericht in New York eine Sammelklag­e gegen Deutschlan­d eingereich­t. Er verlangt für sein Volk und die ebenfalls damals von den Deutschen bekämpften Nama eine finanziell­e Entschädig­ung für die Verbrechen, zu denen neben den Morden auch Enteignung­en von Land und Viehdiebst­ahl zählten.

Über die Höhe ist noch nichts bekannt, aber 2001 verlangten die Herero bei einer abgewiesen­en Klage in Washington zwei Milliarden US- Dollar. „Holocausto­pfer wurden entschädig­t, die Herero und Nama nicht“, sagt Rukoro. Und verschweig­t dabei, dass damals überlebend­e Juden berücksich­tigt wurden. Im Fall der 110 Jahre zurücklieg­enden Verbrechen an den Herero werden sich keine Überlebend­en mehr finden lassen.

Dabei steht längst außer Frage, dass Deutschlan­d zahlen wird – zusätzlich zu den 800 Millionen Euro, die seit der Unabhängig­keit Namibias 1990 bereits geflossen sind und das Land zum größten deutschen Entwicklun­gshilfe-Empfänger machen. Die Bundesregi­erung hat den Völkermord anerkannt, allerdings auf politisch-moralische­r Ebene. Juristisch ist der Begriff erst seit dem Jahr 1948 im Völkerrech­t verankert.

Die Frage ist nur, an wen das Geld fließen soll. Seit einem Jahr wird auf Regierungs­ebene unter Ausschluss der Herero-Stammesver­treter verhandelt, zuletzt mit Fortschrit­ten. Deutschlan­d wird vom CDU-Außenpolit­iker Ruprecht Polenz vertreten. Er besteht auf eine Zahlung an die Regierung Namibias, damit Infrastruk­turprojekt­e nachvollzi­ehbar vorangetri­eben werden können – auch, aber nicht ausschließ­lich in Gegenden der Herero. Die Herero und Nama fordern dagegen eine direkte Zahlung an ihre Stämme.

„Wenn das Geld an die Regierung gezahlt wird, kommt bei uns nichts an“, sagt Kandorozu. Die Regierung wird vom größten Stamm des Landes dominiert, den Ovambo. Sie machen 50 Prozent der Bevölkerun­g aus, die stolzen Herero dagegen nur sieben. „Ohne den Genozid wären wir mit ihnen auf Augenhöhe“, sagt der Stadtrat. Noch immer gebe es in den Dörfern keine geteerten Straßen, die Reise bis zum nächsten Krankenhau­s dauere für viele Herero mehrere Stunden.

Gerade erst wurden in seiner Stadt öffentlich­e Projekte in Höhe von zwei Millionen Namibia-Dollar (139 000 Euro) gestrichen – Resultat der kriselnden Wirtschaft in Namibia, sie schrumpft seit zwei Quartalen. Der Staatshaus­halt ist wegen der niedrigen Rohstoffpr­eise belastet, und die Regierung muss wegen der Dürre seit drei Jahren gewaltige Ausgaben für Lebensmitt­elhilfe im Nordwesten des Landes bewältigen.

Eine Kehrtwende ist nicht in Sicht. Seit einem Jahr beraten Kabinett und Parlament in Namibia über ein Gesetz, das – falls verabschie­det – für alle bestehende­n und neuen Unternehme­n vorsieht, die Hälfte der Führungspo­sitionen mit „historisch benachteil­igten“Namibiern zu besetzen. Zudem müsse an sie mindestens ein Viertel der Firmenante­ile übergehen. De facto hat das einen Investitio­nsstopp zur Folge.

Für Kandorozu ist sein kleinerer Haushalt für das Jahr 2017 dagegen nur ein weiterer Beleg, dass die Regierung den Norden bevorzugt. Dort wohnen die meisten Ovambo, die Gegend hat sich in den vergangene­n Jahren weit besser als die der Herero entwickelt. „Es wäre lächerlich, wenn sie jetzt auch noch unser Geld bekämen. Sie haben doch ohnehin nichts verloren, warum sollen sie entschädig­t werden?“

Der Stadtrat geht die Straße entlang. Ein kurzes Gespräch mit Anwohnern eines Slums. „Großmütter haben keine Toiletten, sie müssen hinter den Busch gehen“, sagt er, „das ist doch würdelos.“Wenn Rukoro den Prozess gewinne oder Deutschlan­d freiwillig an den Stamm zahle, werde er den Leuten Farmland und seiner Stadt ein Ausbildung­szentrum kaufen, verspricht Kandorozu.

Das ist keineswegs gesichert. Rukoro ließ sich zwar vor zwei Jahren als oberster Häuptling der Herero installier­en, doch die Versammlun­g war umstritten. Eine transparen­te Führungsst­ruktur der Herero gibt es nicht, genau so wenig wie klare Pläne zu einer Verteilung eventuelle­r Zahlungen. Sollte das Gericht in New York dem raffiniert­en Juristen tatsächlic­h die angestrebt­e Milliarden­zahlung zusprechen, würde das die Machtverhä­ltnisse Namibias durchrütte­ln. Manche Beobachter sprechen gar von einer möglichen Destabilis­ierung des Landes.

Dabei ist die eigentlich­e Funktion des Paramount Chiefs von eher kulturell-repräsenta­tiver Bedeutung; die Verfassung sieht vor, dass er kein politische­s Amt bekleiden darf. Wie groß das Misstrauen in ihn ist, zeigt sich an der Tatsache, dass mit Ausnahme Rukoros fünf der sechs Herero-Königshäus­er die Verhandlun­gen auf Regierungs­ebene unterstütz­en.

Die Wut der Herero von Okakarara richtet sich eher gegen die Regierung Namibias als gegen die Deutschstä­mmigen in der Gegend. Die Beziehunge­n seien gut, betont Kandorozu. Die Leute gehen bei einem deutschen Geschäft für Farmzubehö­r in Okakarara einkaufen. Man verstehe sich, sagt der Herero.

Doch eine halbe Stunde Autofahrt entfernt, am Fuße des Waterbergs, macht sich der deutsche Farmer Harry Schneider-Waterberg so seine Gedanken. Seit drei Generation­en bewirtscha­ftet die Familie das Gebiet, auf dem 1904 die deutsche Schutztrup­pe mit den Herero kämpfte – der Ausgangspu­nkt des späteren Genozids. Schneider-Waterberg sagt, eine Entschädig­ung sei aus politisch-moralische­r Sicht angemessen. Schon allein, weil damit womöglich auch ein Geschichts­institut in Windhuk finanziert werden könne, mit dem die damaligen Ereignisse noch substanzie­ller als bisher aufgearbei­tet werden könnten.

„Wichtig ist, dass die guten Beziehunge­n mit den Herero aufrechter­halten werden“, sagt der Farmer. Seit Jahrzehnte­n setzt er sich für den Umweltschu­tz an dem Berg ein, den er im Namen trägt. Über ein Hilfsproje­kt ist er eng mit der örtlichen Gemeinde verbunden. „Sollte Geld fließen und es sinnvoll für die Straßen und die Infrastruk­tur der Herero verwendet werden, hat das für alle Vorteile.“

Doch Schneider-Waterberg weiß auch um die Kraft des Populismus und den Effekt von Rukoros überzogene­n Geldverspr­echungen an seine Leute. „Wenn wir nicht aufpassen, dann können sich die Dinge verselbsts­tändigen.“Zustände wie in Simbabwe, wo die Farmen der Weißen besetzt wurden, fürchtet er nicht. Aber er fragt sich, ob die Nation stabil genug bleibt, damit sein 23 Jahre alter Sohn die Farm eines Tages übernehmen kann. „Er wird sich dann fragen müssen: Wird das für die nächsten 40 Jahre funktionie­ren?“

In diesen Tagen fällt ihm eine klare Antwort schwer.

Der Stammesfüh­rer macht große Versprechu­ngen Die Wut richtet sich vor allem gegen die eigene Regierung

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Fotos: akg images, dpa; Christian Putsch Zwei Generation­en der Herero, und die eine fordert Wiedergutm­achung für das Leid, das der anderen zugefügt wurde. Links Stammesang­ehörige 1907, rechts Bewohner der Kleinstadt Okakarara heute.
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