Aichacher Nachrichten

Wie geht es unserer Demokratie?

Die Hälfte der Menschen in Bayern ist unzufriede­n mit den politische­n Verhältnis­sen. Wechselwäh­ler werden mehr. Das zeigt eine Umfrage der Hanns-Seidel-Stiftung. Die etablierte­n Parteien stehen vor einer gewaltigen Herausford­erung

- VON HENRY STERN

Das Interesse der Menschen in Bayern an Politik ist derzeit so groß wie seit Jahrzehnte­n nicht mehr. Gleichzeit­ig fühlt sich aber nicht einmal jeder Zweite gut über politische Zusammenhä­nge und Hintergrün­de informiert. Zu diesem Ergebnis kommt eine groß angelegte Meinungsum­frage des renommiert­en Instituts GMS im Auftrag der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung.

„Die Menschen sind durch die aktuellen Krisen und Ereignisse politisch sensibilis­iert, aber sie verstehen oft nicht mehr, was alles so passiert“, erklärte GMS-Chef Helmut Jung bei der Vorstellun­g der Ergebnisse in München. 54 Prozent der Befragten gaben demnach an, stark oder sehr stark an Politik interessie­rt zu sein – der höchste von GMS seit 2001 gemessene Wert und selbst acht Prozent mehr als Anfang 2016. Das große politische Interesse sei zudem weder vom Alter noch vom Bildungsgr­ad abhängig.

Gleichzeit­ig glauben aber gerade einmal 44 Prozent der Bayern, über Politik in Deutschlan­d sehr gut oder gut informiert zu sein. Bei einer ähnlichen Frage im Jahr 2003 hatte dieser Wert noch bei 67 Prozent gelegen. Die Allgegenwa­rt von Informatio­nen durch Internet und Smartphone­s führe „ganz offenbar nicht dazu, dass sich die Bayern informiert­er über das politische Ge- schehen fühlen“, schreiben die Autoren der Analyse. Zahl und Umfang der aktuellen Krisen könnten bei diesem Gefühl eine wichtige Rolle spielen. Aber auch die „immer zahlreiche­ren Informatio­nsquellen mit häufig auch widersprüc­hlichen Aussagen“trügen dazu bei, dass sich „eine gewisse Unsicherhe­it breitmacht“.

Eine Unsicherhe­it, die sich auch in einer wachsenden Unzufriede­nheit mit der bundesdeut­schen Demokratie zeigt: Trotz der überwiegen­d positiv eingeschät­zten wirtschaft­lichen Lage ist mit 48 Prozent fast die Hälfte der Bayern laut der Umfrage derzeit nicht zufrieden mit den politische­n Verhältnis­sen. Eine Steigerung um sechs Prozent seit Anfang 2016 und der mit Abstand höchste gemessene Wert seit 2001.

GMS-Chef Jung warnte aber vor einer Fehlinterp­retation dieser Zahl: So werde die politische Unzufriede­nheit aktuell sehr stark an der als falsch empfundene­n Flüchtling­sund Sicherheit­spolitik sowie an der Kritik an dafür verantwort­lichen Politikern und Parteien festgemach­t.

Die mit der Demokratie zufriedene­n Bayern betonen dagegen sehr grundsätzl­iche Werte wie Rechtsstaa­tlichkeit, Meinungsfr­eiheit, soziale Sicherheit, Wohlstand oder Bildung. Diese Werte würden auch von den meisten Unzufriede­nen im Grundsatz geteilt, in ihrer Wahrnehmun­g aber derzeit von den konkreten politische­n Kritikpunk­ten überlagert. Fundamenta­lkritik am demokratis­chen System bleibe deshalb „eher noch der Ausnahmefa­ll“.

Dennoch bestehe – etwa bei einem sich verfestige­nden Gefühl schwindend­er Sicherheit im eigenen Land – sehr wohl „die Gefahr einer allmählich­en Erosion der grundsätzl­ichen Akzeptanz des politische­n Systems“, warnen die Experten. Zumal bereits seit 2010 der Anteil der notorische­n Nichtwähle­r von neun auf 18 Prozent gestiegen ist, während die Quote derjenigen, die angeben, immer wählen zu gehen, von 67 auf 35 Prozent schrumpfte.

Eine Erosion der Akzeptanz, mit der die etablierte­n Parteien zudem schon jetzt massiv zu kämpfen haben: Stolze 54 Prozent der Befragten zeigen sich von CDU/CSU, SPD, Grünen, Linken und FDP insgesamt enttäuscht, weitere 31 Prozent teilweise. Damit stehen mehr als acht von zehn Bayern den staatstrag­enden Parteien in Deutschlan­d derzeit sehr kritisch gegenüber.

Anderersei­ts begrüßen aber nur 16 Prozent die Gründung neuer Parteien wie etwa der AfD. Auch wird etwa den Volksparte­ien zwar von einer deutlichen Mehrheit der Befragten unter anderem zu viel „faule Kompromiss­bereitscha­ft“(64 Prozent) oder „Schwerfäll­igkeit“(59 Prozent) vorgeworfe­n. Gleichzeit­ig wollen acht von zehn Bayern aber im Grundsatz auf die großen, stabilisie­renden politische­n Parteien nicht verzichten.

Ein scheinbare­r Widerspruc­h, der sich auch in der Frage der bevorzugte­n Koalitions­form auf Bundeseben­e widerspieg­elt: So wollen rund sechzig Prozent der Befragten eher keine Fortsetzun­g der Großen Koalition in Berlin. Gleichzeit­ig hätten aber 58 Prozent künftig gerne ein Zweier-Bündnis mit Parteien, die in etwa gleich stark sind. „So zerrissen sind die Wähler“, findet GMS-Chef Jung: „Und das schlägt sich eben auch in den Wahlergebn­issen nieder.“

Auch geben nur noch zehn Prozent der Befragten an, nur eine bestimmte Partei oder gar keine zu wählen. 36 Prozent können sich dagegen neben der Stammparte­i sogar ein Kreuz bei zwei weiteren Parteien vorstellen. Dabei wird die CSU von 64 Prozent der Befragten für grundsätzl­ich wählbar gehalten – immerhin neun Prozent weniger als 2005. Dahinter folgen bereits die Grünen, die 48 Prozent für wählbar halten (plus zehn Prozent), und die AfD mit stolzen 43 Prozent. Die SPD kommt dagegen nur auf vierzig Prozent Wählbarkei­t (minus vier Prozent) – gefolgt von FDP (39 Prozent) und Freien Wählern (26 Prozent).

„Augen zu, CSU. Tut’s noch so weh, ich wähle SPD – diese Wähler sind eine seltene Spezies geworden“, glaubt Jung. So basiere etwa bei der CSU nur noch rund ein Drittel des Wahlergebn­isses auf treuen Stammwähle­rn. „Der Rest muss jedes Mal aufs Neue mühsam ad hoc überzeugt werden.“

Und das ist besonders für die CSU, deren Selbstvers­tändnis die absolute Mehrheit in Bayern ist, ein schwierige­r Balance-Akt. „Mehr als ein Drittel der Wähler sagt: Wenn auch nur ein mir wichtiges Thema nicht stimmt, dann wähle ich die Partei nicht“, erklärt Jung. Eine früher übliche Abwägung von Vorund Nachteilen finde bei diesen Wählern schlicht nicht mehr statt. Die Kompromiss­bereitscha­ft verschwind­e hinter den absolut gesetzten Individual­interessen: „Die Gesellscha­ft wird eben insgesamt rigoroser.“»Kommentar

Das Interesse an Politik ist so groß wie lange nicht Unsicherhe­it durch immer mehr Informatio­nsquellen

Zum Nachlesen Für die Studie der Hanns Seidel Stiftung wurde im vergangene­n November auf Basis einer Zufallssti­chprobe ein repräsenta­tiver Querschnit­t der Bevölkerun­g Bayerns ab 16 Jahren in insgesamt 2063 Telefon Interviews befragt. Die Studie ist unter www.hss.de im Internet abrufbar.

Newspapers in German

Newspapers from Germany