Abriss in Sekunden
Ein Hochhaus verschwindet aus dem Stadtbild, ein Umzug von A nach B steht an, eine Künstlerin erinnert sich an ihre Kindheit – drei „Ortsverschiebungen“, die zu drei unterschiedlichen Werken geführt haben
Binnen Sekunden geschieht, was sich von Januar 2016 an über Monate hingezogen hat: der Abriss des NCR-Hochhauses in Kriegshaber. Der Geschwindschritt in der filmischen Collage von Jakob Krattiger macht die mühsame, technisch aufwendige Realität fast vergessen. Elf Stockwerke ragte das Gebäude in die Höhe, Etage für Etage musste abgetragen werden, Bürodecken und Verkleidungen waren zu entfernen, Trennwände, Fassadenplatten und Tonnen von Kabeln...
Ein markanter Ort, der die Blicke auf sich zog, an dem die Blicke abprallten, ist verschwunden. NCR ist mittlerweile im ehemaligen Weltbild-Gebäude in Lechhausen untergekommen – ein augenfälliger Ortswechsel. Der Augsburger Gerald Fiebig, Jahrgang 1973, vormals nahe dem Hochhaus wohnhaft, ist ebenfalls umgezogen. Die Strecke von A nach B fuhr Fiebig mit dem Rad ab und nahm dabei die Verkehrsund Naturgeräusche mit Kassettenrekorder auf. Das war der Ausgangspunkt für die von Thomas Elsen betreute Ausstellung im Höhmannhaus, in der sich die Künstler Eri Kassnel, Jakob Krattiger und Gerald Fiebig für das Projekt „Ortsverschiebungen“zusammentaten.
Jakob Krattiger, 1974 in Basel geboren, hatte vor seinem Fenster in Kriegshaber den NCR-Block täglich vor Augen. Er machte Fotos, zog sie auf Wellpappe auf, hielt so ein Objekt fest, das es nicht mehr gibt, setzte es der Zeit aus: konträren Stimmungen, Lichtverhältnissen und Jahreszeiten, dem sonnenbeschienenen Tag und der fast alle Sichtbarkeit löschenden Nacht. Das Hochhaus erscheint wie ein Leuchtkörper, dann wieder sinkt es in die Anonymität eines Grünschleiers. So erhebt sich, so verliert sich ein machtvoller Bau im Moment.
Der Betrachter passiert diese atmosphärisch dichte Folge wie einen Film – und wird auf dem Monitor im rückwärtigen Raum zugleich Zeuge einer Filmcollage Krattigers, in dem der Rückbau des NCR-Gebäudes durch einen sich irrsinnig schnell drehenden Hochkran in Sekundenschnelle erfolgt. Unterlegt ist der Film durch Gerald Fiebigs Klangcollage. Sie mischt die Töne seiner Fahrradtour mit den LiveGeräuschen der Vernissagebesucher, überblendet somit verschiede- ne Örtlichkeiten und Zeiten. Das Publikum wird Teil eines sich optisch wie akustisch ereignenden temporären Projekts.
Die Dritte im Bunde dieser vielstimmig inszenierten Ortsverschiebungen ist Eri Kassnel, 1973 im rumänischen Timisoara geboren, Mitglied der Banater Schwaben. 1979 kam sie nach Augsburg, ein einschneidender Ortswechsel. Die Räume der Kindheit blieben zurück, lebten aber zwischen Realität und Fiktion weiter. Erinnerung, so die Künstlerin, sei ein kreativer Akt. Sie hat mit Verlust zu tun wie mit Imagination und Konstruktion.
Die 16, von Kassnel auf einen alten Tisch aufgebrachten Polaroids blättern gleichsam im Familienalbum. In den (auf alt gemachten) Fotos spielt und arbeitet die Zeit, Melancholie legt sich auf das Andenken von heute und die Orte von einst. Ein Film sammelt die aus einem fahrenden Auto aufgenommenen Eindrücke von Tunnels, Straßenzügen und Plattenbauten. Die in eine Raumecke des Höhmannhauses projizierten Bilder verschwimmen zu flüchtigen Streifzügen. Die Künstlerin arbeitet Bildstörungen ein, parallel bestimmen Such- und Störgeräusche die Tonspur.
Was trägt man in der Bewegung von Ort zu Ort mit sich? Was überlebt von jenen Stätten, die auf immer verloren sind, woran halten wir uns im Fluss der Zeit? Was verschiebt sich von der Realität in den Bilderstrom der Imagination? Kann man der Erinnerung trauen? Die fotografisch, filmisch und auditiv ineinander spielende Ausstellung stellt solche Grundfragen – in der Kunst wie im Leben.
Laufzeit Bis 26. März in der Neuen Galerie im Höhmannhaus, Maximilianstraße 48; Geöffnet Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr.