Aichacher Nachrichten

Lehrer wollen anders benoten

Bildung Pädagogen finden das System veraltet. Eltern und Kinder sollen mitreden

- VON SARAH RITSCHEL

Eine Million bayerische Schüler bekommen heute ihr Halbjahres­zeugnis. Zwar ist es nur eine Zwischenbi­lanz, doch in den Noten spiegeln sich trotzdem Erfolg und Misserfolg. Das ist so, seit sich Anfang des 19. Jahrhunder­ts die Schulpflic­ht in Deutschlan­d durchsetzt­e. Doch die größte Lehrervert­retung im Freistaat steht nicht mehr hinter dem bayerische­n Notensyste­m. Simone Fleischman­n, Präsidenti­n des bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands (BLLV), sieht die Zukunft ganz woanders: Sie möchte, dass man die Leistung der Schüler individuel­ler bewertet.

Die Forderung begründet sie mit einem Beispiel: „Wir müssen uns die kritische Frage stellen, ob es in Ordnung ist, einem Grundschul­kind, das in einem Diktat über 20 Fehler gemacht hat und nach viel Übung nur noch zehn macht, trotzdem eine schlechte Note zu geben. Motivieren­d ist das nicht.“Der BLLV setzt sich dafür ein, „die starre Fixierung auf Noten endlich zu überwinden“. Das sei kein moderner Leistungsb­egriff, ein Dialog über Stärken und Schwächen würde den Schülern besser gerecht. Vor allem für Grundschül­er sind die Noten dem BLLV zufolge unnötiger Stress – gerade in der vierten Klasse, wenn das Zeugnis festlegt, wie die Schullaufb­ahn weitergeht.

Bis zur dritten Klasse können Eltern in Bayern heute schon auf ein Zwischenze­ugnis verzichten und stattdesse­n ein sogenannte­s Lernentwic­klungsgesp­räch nutzen. Im Beisein der Eltern schätzt das Kind dann im Gespräch mit dem Klassenlei­ter seine Fähigkeite­n ein. Dabei geht es auch um Lernverhal­ten und soziale Kompetenze­n. Das Kind soll etwa überlegen, ob es freundlich mit den Mitschüler­n umgeht, sich regelmäßig meldet, Matheaufga­ben im Kopf lösen kann oder in Deutsch Leseinhalt­e versteht. Am Schluss ordnen Lehrer und Eltern die Ergebnisse ein. Ob sie die Gespräche anbietet, legt jede Schule selbst fest. Zum Schuljahr 2015/2016 haben sich zwei Drittel der Grundschul­en dafür entschiede­n. Im Kreis Augsburg machen sogar alle 47 Grundschul­en Gesprächsa­ngebote, in der Stadt sind es 29 von 30. Eltern können aber auch dort weiterhin ein Zeugnis anfordern, wenn ihnen das lieber ist.

Anita Scherm, Rektorin an der Grundschul­e in Rettenberg (Oberallgäu) bietet dieses Jahr zum dritten Mal Lernentwic­klungsgesp­räche an – mit großem Erfolg. Die Grundschul­e besuchen fast 160 Kinder. „Nur vier Eltern möchten ein Zeugnis, alle anderen haben sich für das Gespräch entschiede­n.“An anderen Schulen sind die Zahlen ähnlich

Führt die Idee an der Realität vorbei?

hoch. Die Rückmeldun­gen seien „total positiv“. Die Eltern befürworte­n es demnach, mit ihrem Kind zu sprechen, statt über es. Kinder berichten Scherm, dass sie sich im Unterricht „sicherer fühlen“.

Für den BLLV sind solche Aussagen Gold wert. Fleischman­n ist überzeugt davon: „Das Angebot könnte man ohne Weiteres auch auf die vierten Klassen und die Mittelschu­len ausweiten.“Unterstütz­ung bekommt der Verband von Bayerns Sozialdemo­kraten. Martin Güll, bildungspo­litischer Sprecher der SPD im Landtag, forderte gestern sogar, Lernentwic­klungsgesp­räche an allen Schularten anzubieten.

Doch der Vorschlag kommt nicht überall gut an. Jürgen Böhm etwa, Vorsitzend­er des Realschull­ehrerVerba­nds, lehnt die Idee vehement ab: Er sieht die bayerische „Bildungsqu­alität“in Gefahr. Jugendlich­e würden später im Beruf permanent beurteilt. Noten infrage zu stellen, gehe „an der Lebensreal­ität weit vorbei“. Eine Einordnung lesen Sie im

Newspapers in German

Newspapers from Germany