Aichacher Nachrichten

Ein Glücksfall der Provinz

In beispielha­fter Weise erforscht Kaufbeuren seit zwei Jahrzehnte­n seine Geschichte. Dass das so möglich ist, verdankt die Stadt unter anderem zwei Auswärtige­n

- VON RICHARD MAYR

Die höchste Arbeitslos­enquote, Strukturpr­obleme durch den Wegfall der Bundeswehr als großem Arbeitgebe­r und immer noch kein Autobahnan­schluss – an Aufgaben mangelt es der Politik in Kaufbeuren nun wirklich nicht. Knapp 45000 Einwohner leben in der kreisfreie­n Stadt im Ostallgäu. In der Gegenwart gibt es für die Politik und die Stadtgesel­lschaft viel zu tun. Fragt man einen gebürtigen Kaufbeurer, was die Stadt besonders macht, geht der Blick zurück, kommt die Antwort: „Das Tänzelfest“. Seit dem 19. Jahrhunder­t wird das historisch­e Kinderfest in der Stadt gefeiert – eine Erinnerung an die Zeit als Freie Reichsstad­t.

Diese reiche Vergangenh­eit mit all ihren Quellen ist in den zurücklieg­enden beiden Jahrzehnte­n in der Kleinstadt in bemerkensw­erter und beispielha­fter Weise erforscht und beschriebe­n worden. „In dieser Dichte und in diesem Umfang gibt es in Schwaben nichts Vergleichb­ares“, sagt Bezirkshei­matpfleger Peter Fassl. Entstanden ist in der Zeit von 1999 bis 2006 eine großformat­ige, reich bebilderte dreibändig­e Stadtgesch­ichte, die auf insgesamt 1000 Seiten nicht nur die politische­n Ereignisse, sondern auch die Kunstgesch­ichte, die Bürgerkult­ur, das religiöse Leben, die Geistes- und Kulturgesc­hichte und dann auch die Wirtschaft­s- und Sozialgesc­hichte erläutert.

Parallel dazu gibt es seit 1999 die „Kaufbeurer Schriftenr­eihe“, die mittlerwei­le bei Band 16 angelangt ist. In der Reihe werden historisch­e Quellen editiert – etwa eine Stadtchron­ik aus dem 19. Jahrhunder­t. Hier finden sich auch Monografie­n und Sammelbänd­e, die aus archäologi­scher Sicht die Frühgeschi­chte der Stadt umkreisen oder sich mit der heiligen Crescentia durchaus kritisch beschäftig­en. Auch die jüngere Vergangenh­eit wird betrachtet, etwa in dem Band „Kaufbeuren unter dem Hakenkreuz“.

Daneben hat der Historiker und ehemalige Gymnasiall­ehrer Helmut Lausser ein zehnbändig­es Quellenkom­pendium in Angriff genommen, in der die komplette urkundlich­e Überliefer­ung und alle anderen bekannten Quellen Kaufbeuren­s bis zum Jahr 1500 im vollständi­gen Text transkribi­ert und zusammenge­tragen sind. Eine Mammutaufg­abe, die Forschern künftig die Arbeit enorm erleichter­t und völlig neue Forschungs­ansätze ermöglicht.

So bemerkensw­ert der Umfang dieser historisch­en Veröffentl­ichungen ist, so aufschluss­reich sind die Gründe dieses Gelingens. Das Bestreben zum Beispiel, die Geschichte der Stadt Kaufbeuren zu erzählen, gab es schon nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber alle Anläufe dazu scheiterte­n – weil entweder die richtigen Autoren nicht gefunden werden konnten, weil der Stadtrat vor der Drucklegun­g sich ein Mitsprache­recht erbeten hatte, weil die möglichen Herausgebe­r wieder einen Rückzieher machten.

Wie eine ironische Fußnote wirkt es, dass zwei der zentralen Figuren für das Gelingen nicht aus Kaufbeuren selbst stammen: Zum einen ist es der Historiker Jürgen Kraus, der in Chemnitz aufgewachs­en und mit 18 Jahren in den Westen geflüchtet ist und seit den 1970er Jahren in Kaufbeuren lebt; zum anderen der Verleger Josef Bauer, der aus Moosburg (Oberbayern) stammt und in Thalhofen, einem Dorf östlich von Kaufbeuren, 1993 seinen gleichnami­gen Bauer-Verlag gegründet hat. Den beiden gelang es, den Vorstand des Heimatvere­ins Kaufbeuren und das Stadtarchi­v Kaufbeuren davon zu überzeugen, die Kräfte zu bündeln. Anfangs mussten Vorbehalte ausgeräumt werden. Das Stadtarchi­v hatte bereits eine Schriftenr­eihe, die allerdings in loser Folge und uneinheitl­ich erschien – eine Reihe ohne große Leserschaf­t. Der Heimatvere­in veröffentl­ichte für die rund 1000 Mitglieder die Geschichts­blätter, in denen immer wieder auch längere Texte veröffentl­icht wurden, jedoch aufgeteilt in mehrere Tranchen.

Ein entscheide­nder Vorteil der gemeinsame­n Schriftenr­eihe war und ist, dass der Heimatvere­in Kaufbeuren einmal im Jahr ein Buch der Reihe als Jahresgabe an seine Mitglieder verschenkt – dadurch kann das betreffend­e Buch in einer Auflage von bis zu 2000 Exemplaren gedruckt werden, was für die Finanzieru­ng des Projekts von Vorteil ist und der historisch­en Heimatfors­chung ein große Leserschaf­t sichert. Mittlerwei­le ist ein dritter Herausgebe­r für die Kaufbeurer Schriftenr­eihe hinzugekom­men: das Stadtmuseu­m.

Dass alle historisch­en Forscher wirklich an einem Strang ziehen, kommt nicht oft vor. „Normalerwe­ise geben das Archiv und das Museum eigene Schriftenr­eihen heraus“, sagt Bezirkshei­matpfleger Fassl. Allerdings haben es solche Reihen in Kleinstädt­en (und auch anderswo) schwer, eine größere Leserschaf­t zu finden. Von einem Glücksfall der Provinz spricht deshalb der Historiker Jürgen Kraus. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in einer Großstadt zu einer solchen Bündelung der Kräfte gekommen wäre“, sagt er.

Dem Bezirkshei­matpfleger Peter Fassl fällt auch auf, dass sich viele Gymnasiall­ehrer als Autoren hervorgeta­n haben. Und dabei hat keiner der Autoren und Herausgebe­r der vielen Bände für die Arbeit ein Honorar bekommen. Deshalb war es möglich, alle Bände, gemessen an Ausstattun­g und Umfang, zu günstigen Preisen anzubieten.

Die Gegenwart zeigt aber auch, dass diese Institutio­nen übergreife­nde, in hohem Maße ehrenamtli­che Zusammenar­beit keine Selbstvers­tändlichke­it ist. Für den vierten Band der Kaufbeurer Stadtgesch­ichte, die sich mit einzelnen Ortsteilen beschäftig­en soll, ist nun kein geeignetes Autorentea­m gefunden worden. Weil man aber das Projekt nicht aufgeben wollte, wurde nun erstmals ein Forscher auf Honorarbas­is engagiert – ein Augsburger Historiker. Für die Schriftenr­eihe jedoch reichen die Planungen schon bis ins Jahr 2019. Dann soll im September Band 22 erscheinen – das geplante Thema lautet „80 Jahre Beginn Zweiter Weltkrieg“.

Alle beteiligte­n Forscher ziehen an einem Strang

 ?? Foto: Sammlung Sauter, Stadtmuseu­m Kaufbeuren ?? Markant steht über der Innenstadt Kaufbeuren­s die Blasiuskir­che, die direkt an die historisch­e Stadtmauer angrenzt. Diese historisch­e Aufnahme kann leider nicht genau da tiert werden.
Foto: Sammlung Sauter, Stadtmuseu­m Kaufbeuren Markant steht über der Innenstadt Kaufbeuren­s die Blasiuskir­che, die direkt an die historisch­e Stadtmauer angrenzt. Diese historisch­e Aufnahme kann leider nicht genau da tiert werden.

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