Ein Glücksfall der Provinz
In beispielhafter Weise erforscht Kaufbeuren seit zwei Jahrzehnten seine Geschichte. Dass das so möglich ist, verdankt die Stadt unter anderem zwei Auswärtigen
Die höchste Arbeitslosenquote, Strukturprobleme durch den Wegfall der Bundeswehr als großem Arbeitgeber und immer noch kein Autobahnanschluss – an Aufgaben mangelt es der Politik in Kaufbeuren nun wirklich nicht. Knapp 45000 Einwohner leben in der kreisfreien Stadt im Ostallgäu. In der Gegenwart gibt es für die Politik und die Stadtgesellschaft viel zu tun. Fragt man einen gebürtigen Kaufbeurer, was die Stadt besonders macht, geht der Blick zurück, kommt die Antwort: „Das Tänzelfest“. Seit dem 19. Jahrhundert wird das historische Kinderfest in der Stadt gefeiert – eine Erinnerung an die Zeit als Freie Reichsstadt.
Diese reiche Vergangenheit mit all ihren Quellen ist in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten in der Kleinstadt in bemerkenswerter und beispielhafter Weise erforscht und beschrieben worden. „In dieser Dichte und in diesem Umfang gibt es in Schwaben nichts Vergleichbares“, sagt Bezirksheimatpfleger Peter Fassl. Entstanden ist in der Zeit von 1999 bis 2006 eine großformatige, reich bebilderte dreibändige Stadtgeschichte, die auf insgesamt 1000 Seiten nicht nur die politischen Ereignisse, sondern auch die Kunstgeschichte, die Bürgerkultur, das religiöse Leben, die Geistes- und Kulturgeschichte und dann auch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte erläutert.
Parallel dazu gibt es seit 1999 die „Kaufbeurer Schriftenreihe“, die mittlerweile bei Band 16 angelangt ist. In der Reihe werden historische Quellen editiert – etwa eine Stadtchronik aus dem 19. Jahrhundert. Hier finden sich auch Monografien und Sammelbände, die aus archäologischer Sicht die Frühgeschichte der Stadt umkreisen oder sich mit der heiligen Crescentia durchaus kritisch beschäftigen. Auch die jüngere Vergangenheit wird betrachtet, etwa in dem Band „Kaufbeuren unter dem Hakenkreuz“.
Daneben hat der Historiker und ehemalige Gymnasiallehrer Helmut Lausser ein zehnbändiges Quellenkompendium in Angriff genommen, in der die komplette urkundliche Überlieferung und alle anderen bekannten Quellen Kaufbeurens bis zum Jahr 1500 im vollständigen Text transkribiert und zusammengetragen sind. Eine Mammutaufgabe, die Forschern künftig die Arbeit enorm erleichtert und völlig neue Forschungsansätze ermöglicht.
So bemerkenswert der Umfang dieser historischen Veröffentlichungen ist, so aufschlussreich sind die Gründe dieses Gelingens. Das Bestreben zum Beispiel, die Geschichte der Stadt Kaufbeuren zu erzählen, gab es schon nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber alle Anläufe dazu scheiterten – weil entweder die richtigen Autoren nicht gefunden werden konnten, weil der Stadtrat vor der Drucklegung sich ein Mitspracherecht erbeten hatte, weil die möglichen Herausgeber wieder einen Rückzieher machten.
Wie eine ironische Fußnote wirkt es, dass zwei der zentralen Figuren für das Gelingen nicht aus Kaufbeuren selbst stammen: Zum einen ist es der Historiker Jürgen Kraus, der in Chemnitz aufgewachsen und mit 18 Jahren in den Westen geflüchtet ist und seit den 1970er Jahren in Kaufbeuren lebt; zum anderen der Verleger Josef Bauer, der aus Moosburg (Oberbayern) stammt und in Thalhofen, einem Dorf östlich von Kaufbeuren, 1993 seinen gleichnamigen Bauer-Verlag gegründet hat. Den beiden gelang es, den Vorstand des Heimatvereins Kaufbeuren und das Stadtarchiv Kaufbeuren davon zu überzeugen, die Kräfte zu bündeln. Anfangs mussten Vorbehalte ausgeräumt werden. Das Stadtarchiv hatte bereits eine Schriftenreihe, die allerdings in loser Folge und uneinheitlich erschien – eine Reihe ohne große Leserschaft. Der Heimatverein veröffentlichte für die rund 1000 Mitglieder die Geschichtsblätter, in denen immer wieder auch längere Texte veröffentlicht wurden, jedoch aufgeteilt in mehrere Tranchen.
Ein entscheidender Vorteil der gemeinsamen Schriftenreihe war und ist, dass der Heimatverein Kaufbeuren einmal im Jahr ein Buch der Reihe als Jahresgabe an seine Mitglieder verschenkt – dadurch kann das betreffende Buch in einer Auflage von bis zu 2000 Exemplaren gedruckt werden, was für die Finanzierung des Projekts von Vorteil ist und der historischen Heimatforschung ein große Leserschaft sichert. Mittlerweile ist ein dritter Herausgeber für die Kaufbeurer Schriftenreihe hinzugekommen: das Stadtmuseum.
Dass alle historischen Forscher wirklich an einem Strang ziehen, kommt nicht oft vor. „Normalerweise geben das Archiv und das Museum eigene Schriftenreihen heraus“, sagt Bezirksheimatpfleger Fassl. Allerdings haben es solche Reihen in Kleinstädten (und auch anderswo) schwer, eine größere Leserschaft zu finden. Von einem Glücksfall der Provinz spricht deshalb der Historiker Jürgen Kraus. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in einer Großstadt zu einer solchen Bündelung der Kräfte gekommen wäre“, sagt er.
Dem Bezirksheimatpfleger Peter Fassl fällt auch auf, dass sich viele Gymnasiallehrer als Autoren hervorgetan haben. Und dabei hat keiner der Autoren und Herausgeber der vielen Bände für die Arbeit ein Honorar bekommen. Deshalb war es möglich, alle Bände, gemessen an Ausstattung und Umfang, zu günstigen Preisen anzubieten.
Die Gegenwart zeigt aber auch, dass diese Institutionen übergreifende, in hohem Maße ehrenamtliche Zusammenarbeit keine Selbstverständlichkeit ist. Für den vierten Band der Kaufbeurer Stadtgeschichte, die sich mit einzelnen Ortsteilen beschäftigen soll, ist nun kein geeignetes Autorenteam gefunden worden. Weil man aber das Projekt nicht aufgeben wollte, wurde nun erstmals ein Forscher auf Honorarbasis engagiert – ein Augsburger Historiker. Für die Schriftenreihe jedoch reichen die Planungen schon bis ins Jahr 2019. Dann soll im September Band 22 erscheinen – das geplante Thema lautet „80 Jahre Beginn Zweiter Weltkrieg“.
Alle beteiligten Forscher ziehen an einem Strang