Wo die Steine Leben bekommen
Bildhauer Schessl Norbert hat die Moritzkirche verwandelt. Jetzt gibt’s das Buch
Ein Acker in Brache: Das Feld ist bestimmte Zeit freigestellt von Nutzung, Zweck und Produktivität. Es ruht und der beanspruchte Boden soll dadurch wieder Kraft schöpfen. „Brache“nannte die Moritzkirche auch die Kunstinstallation des Bildhauers Schessl Norbert im vorigen Jahr. Rau behauene, aufgeschichtete Steine mutete er den Kirchgängern zu. Nichts Schönes, nichts Fertiges. Vielmehr Energiespeicher und Zukunftspotenzial in aller Offenheit.
Aus der temporären Kunstinstallation ist nun eine dauerhafte Publikation geworden. Wieder so etwas Unfertiges, ein Buch aus gefalteten einzelnen Bögen. Im Moritzpunkt an der Maximilianstraße hängen sie als Werke an der Wand. Zahlreiche Aufnahmen der Steine im Kirchenraum enthält dieser ungewöhnliche Katalog. Alle möglichen Perspektiven haben die Fotografen eingenommen: mal in der Draufsicht und mal aus der Froschperspektive, mal im Detail und mal in der Totalen, mal im hellen Sonnenlicht und mal in trüb-diffuser Beleuchtung. So ergibt sich ein Kaleidoskop stets neuer Ansichten, die auch noch nebeneinander bildlich korrespondieren.
Schessl Norbert vermied im Layout absichtlich jede Regelmäßigkeit in der Verteilung und Formatierung der Bilder auf den Bögen. Die meisten Fotografien sind in cremigem Schwarz-Weiß reproduziert, wenige in Farbe. Stehen sie beieinander, verstärken sie sich gegenseitig, vor allem dann, wenn sie dieselbe Situation zeigen. Die Publikation bietet die Bögen im „Altarfalz“, also aus breitem Format mit Flügeln zum Aufklappen eingefaltet. Das lässt die unterschiedlichsten Kombinationen zu und lädt zum Spielen ein, also zu einem intensiveren Bild-Erleben.
Schessl selbst hat mit der Anordnung gespielt. Er habe sehen wollen, was sich ändert. Auf den sinnlichen Eindruck kommt es dem Bildhauer aus Gaulzhofen (Landkreis Aichach-Friedberg) gerade an. Schessl sagt: „Was Kunst ausmacht, ist alles da, bevor es Sprache gibt, nämlich im Moment des unvoreingenommenen Schauens.“Schauen kann man im Moritzpunkt in aller Ruhe, halt nur ohne die Lust am Blättern.
Text liefert das Buch „Altarfalz“auch: interpretierende Betrachtungen von Sabine Stötzer („Wir brauchen die Kunst als Übergangszeichen. Denn wir leben selber in Übergängen“) und Lyrik über die Gesteinsarten („Du sagst Anthrazit / ich sage Morgenröte – Du sagst Betongrau / ich sage Frühlingswind“).