Sinti und Roma wollen das Schweigen brechen
Sieben Jahrzehnte hat es gedauert, bis sich die Augsburger Sinti und Roma organisierten. Der neue Regionalverband will aufklären und erinnern. Eine KZ-Überlebende berichtet von ihrem Schicksal
Augsburgs Erinnerungskultur hat eine neue Stimme. Im Jahr 2016 gründeten neun Mitglieder den Regionalverband der deutschen Sinti und Roma. Jetzt gingen der Verein und seine Vorsitzende Marcella Reinhard erstmals an die Öffentlichkeit. Zusammen mit Oberbürgermeister Kurt Gribl und dem Vorsitzenden des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma, Romani Rose, erinnerte Reinhard in einem Festakt an die während der Herrschaft der Nationalsozialisten ermordeten 500 000 Sinti und Roma.
Rund 250 Gäste folgten der Einladung in den Oberen Rathausfletz. Etwa die Hälfte von ihnen gehörte der Minderheit der Sinti und Roma an, unter diesen befanden sich auch Zeitzeugen, die verschiedene Konzentrationslager des Nationalsozialismus überlebt hatten.
Die Eltern der neun ReinhardGeschwister kehrten als Kinder aus der KZ-Haft zurück, zahlreiche Tanten und Onkel jedoch wurden ermordet. „Wenn wir Kinder das Wort ‚Lager‘ hörten, spulten sich im Kopf die Schreckenserlebnisse unserer Eltern ab. Ihre Traumata lebten in uns fort“, erzählt Marcella Reinhard. Romani Rose erklärt das Besondere der Nachkriegssituation für die Sinti: „Wir wuchsen im Schatten der Konzentrationslager auf. Aber anders als bei den jüdischen Opfern und ihren Nachfahren gab es für uns keine Anerkennung, keine Aufarbeitung. Wir lebten auch nach dem Krieg am Rand der Gesellschaft.“
So wie die Reinhards. Auch Marcella verbrachte ihre ersten sechs Lebensjahre bis 1974 im sogenannten Oberhauser Fischerholz und erinnert sich gut, wie sich regelmäßig das Auge des Gesetzes auf den Wagenpark richtete. „Dass alle glaubten, wir stehlen und klauen Kinder, wussten wir. Die Polizei war dauernd bei uns, ob etwas vorgefallen war oder nicht“, so Reinhard.
Bis in die 1990er Jahre lebten Jenische, Sinti und Roma sowie andere Gruppen in diesem abgelegenen Quartier. Die „Zigeuner“-Diskriminierungen der Nachkriegszeit werden auch ein Arbeitsfeld des Verbandes sein. „Wir wollen aufklären. Unsere Kinder sollen sich bedenkenlos outen können und auf die immer wiederkehrende Frage, ob sie Türken oder Italiener seien, selbstbewusst antworten: Nein, ich bin Sinto oder Sintezza“, erklärt Marcella Reinhard.
Erstmals berichtete im Augsburger Rathaus auch eine Zeitzeugin der Sinti von ihren Erlebnissen während der Nazizeit. Frederika Brand wurde 1937 in Österreich geboren und überlebte als Kind verschiedene KZs, zuletzt das Lager in Dachau. Ihre Eltern und fünf Geschwister wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Seit 1969 wohnt sie in Augsburg.
Auf dem Podium nach dieser Zeit befragt, reißen ihre Erinnerungen sie fort. Laut verdammt sie Adolf Hitler, Eva Braun, den KZ-Arzt Mengele. Im Publikum ist es still. „Zigeunerpack? Wir sind nicht faul. Das haben wir alles nicht verdient.“Anhaltender Applaus unter den Zuhörern.
Gribl erklärt, in Augsburg dürfe es keinen Raum für Diskriminierungen geben und ermutigt die Mitglieder: „Sprechen Sie über Ihre Erfahrungen. Unrecht muss benannt werden, damit es uns berührt.“