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Missbrauch Sexuelle Übergriffe auf Kinder gibt es im Fußball-, Turn- oder Schwimmklub nicht seltener als in anderen Bereichen der Gesellschaft. Das zeigt eine Studie. Nun steht ein Jugendtrainer aus Ingolstadt vor Gericht. Warum in solchen Fällen die Such
Aschaffenburg/Kempten Seine Augen wandern durch den Gerichtssaal. Sie fixieren Richter, Schöffen und Staatsanwalt. Schwere Vorwürfe lasten auf dem Mann. Der Fußball-Trainer aus Ingolstadt, der als Jugendlicher unter anderem für Vereine im Kreis Aichach-Friedberg gespielt hat und jetzt auf der Anklagebank sitzt, muss sich wegen sexuellen Missbrauchs vor dem Landgericht Aschaffenburg verantworten. In seiner Zeit als Coach beim SSV Jahn Regensburg soll sich der 27-Jährige an zwei zehnjährigen Jugendspielern vergangen haben.
Um die Anklageschrift zu verlesen, braucht Staatsanwalt Matthias Wienand an diesem Morgen nicht einmal fünf Minuten. Auf nur zwei Seiten ist in knappen Worten geschildert, was sich im November 2013 am Rande eines Turniers in Berlin und im März 2014 in einem Trainingslager in Alzenau bei Aschaffenburg zugetragen haben soll. Für den zweiten Fall steht der Vorwurf schweren sexuellen Missbrauchs im Raum. Der Angeklagte soll in das Zimmer der Kinder gegangen sein. Er habe einen Buben aufgefordert, ihm in sein Bett zu folgen. Dann habe er sich dazugelegt, den Zehnjährigen am Bauch gestreichelt, sei mit der Hand in die Schlafanzughose geglitten und habe den Buben am Geschlechtsteil angefasst. Schließlich habe er ihn am After berührt und einen Finger eingeführt.
Was ist dran an den Vorwürfen gegen den Trainer? Hat er sich tatsächlich an den Buben vergangen? Und falls ja: ein krasser Einzelfall? Wie häufig kommt sexueller Missbrauch im Sport überhaupt vor?
Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule Köln und der Universität Ulm haben dazu kürzlich eine bemerkenswerte Studie veröffentlicht. Sie hatten die Daten von 1800 Kaderathleten aus 128 Sportarten ausgewertet und festgestellt: Sexuelle Gewalt kommt im Sport nicht häufiger vor als in anderen Bereichen der Gesellschaft – aber auch nicht seltener. Vier von zehn Befragten erlebten im Sport sexuelle Gewalt. 195 berichteten von sexistischen Witzen, anzüglichen Bemerkungen oder Blicken. 21 Sportler haben ungewollt sexuellen Körperkontakt erlebt. Erstmals von sexueller Gewalt betroffen waren die meisten Sportler im Jugendalter. Und: Sportlerinnen fielen Tätern häufiger zum Opfer als männliche Athleten.
Die Wissenschaftler nahmen auch die Vereine unter die Lupe. Sie befragten 20500 Klubs und erfuhren, dass es in den vergangenen fünf Jahren in 220 von ihnen Verdachtsfälle sexueller Gewalt gab. Hochgerechnet auf die 90240 Sportvereine in Deutschland ist also davon auszugehen, dass sich in dieser Zeit 1530 Klubs mit sexueller Gewalt befasst haben. Eine Zahl, die danach klingt, als gäbe es da ein richtiges Problem.
Im Fall des Jugendtrainers aus Ingolstadt musste sich auch Jahn Re- gensburg mit dem Thema beschäftigen. Der Mann hatte den Verein bereits verlassen und in Frankfurt angeheuert, als die Mutter eines Buben seinen Nachfolger ansprach. Der Oberpfälzer erinnert sich als Zeuge vor Gericht: „Wir waren gerade bei einem ganz anderen Thema, da sagte sie plötzlich, sie habe seinen Umgang mit den Spielern komisch gefunden.“So habe sie mitbekommen, wie der Angeklagte die Spieler unter der Dusche beobachtet und sie auf den Mund geküsst hätte.
Der Zeuge selbst beschreibt den Angeklagten als launisch und temperamentvoll, mal besonders wohlwollend, dann aber auch wieder sehr streng mit den Kindern. Er sagt, ihm sei der Angeklagte „fast zu freundschaftlich“mit den Kindern umgegangen: „Ich hätte die Spieler nie auf den Schoß genommen oder gestreichelt.“Kurz nachdem er die Mannschaft übernommen hatte, hätten Spieler gesagt, sie fänden es gut, allein duschen zu dürfen. In der Vorsaison mit dem Angeklagten als Trainer sei das nicht so gewesen.
Dessen Hände zittern jetzt. Aufmerksam verfolgt er die Aussagen seines Nachfolgers. Er knetet die Hände, dreht den Kugelschreiber auf und wieder zu und öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen. Schnell schließt er ihn wieder, kritzelt Notizen auf seinen Block und legt sie seinem Anwalt hin. Die Rollenverteilung ist klar: Der Jurist spricht, der Angeklagte schweigt.
Im Zeugenstand schildert sein Nachfolger, wie schwierig es für ihn war, mit den vagen Andeutungen der Mutter umzugehen. Gemeinsam mit Kollegen rief er bei den Eltern aller Spieler an. Einen konkreten Verdacht gab es da noch nicht. Bei einem Elternabend eine Woche später sei die Situation eskaliert, erzählt der Geschäftsführer von Jahn Regensburg, Christian Keller, vor Gericht: „Ich hatte den Eindruck, dass Eltern aus einer Mücke einen Elefanten machen wollten.“Sie hätten sich vor allem über Trainingsmethoden beschwert. Doch Details zu einem möglichen sexuellen Missbrauch habe niemand genannt.
Erst nach dem Elternabend sei die Familie eines Buben auf ihn zugekommen, sagt Keller: „Der Vater war völlig außer sich, er machte uns Vorwürfe. Er fragte, wie so etwas beim SSV Jahn passieren könne.“Erst im Vier-Augen-Gespräch habe er berichtet, was sein Sohn mit dem Angeklagten erlebt hätte: „Er soll in angetrunkenem Zustand in das Zimmer des Buben gegangen sein und ihn unten herum angefasst haben.“Er habe die Eltern gebeten, fair zu bleiben und Anzeige bei der Polizei zu erstatten, ohne gleich zur Presse zu gehen, sagt Keller. „Aber am nächsten Tag war alles schon öffentlich und wir wurden von den Reaktionen überrollt.“Bei einer Flyerund Aufkleber-Aktion mit dem Titel „SSV Jahn – Hände weg von Kindern“sei auch er verunglimpft worden, so Keller, der bis heute zu seiner Entscheidung steht, den Mann eingestellt zu haben. „Er war lizensierter Trainer und hatte gute Referenzen, die er belegen konnte.“
Und nun womöglich das. Auch in Vereinen in unserer Region hat es schon sexuelle Gewalt gegenüber Kindern gegeben. Wie oft, darüber gibt es keine Statistik. Nur selten benachrichtigen Vereine oder die Staatsanwaltschaft in solchen Fällen den Bayerischen Landes-Sportverband, den Dachverband der Klubs. Eine Gewaltserie allerdings ist besonders in Erinnerung geblieben.
Im Allgäu verging sich zwischen 1994 und 2003 ein Schwimmtrainer des TV Kempten an mehreren Mädchen. Martina – ihren echten Namen will sie nicht in der Zeitung lesen – war zwar nicht direkt Opfer. Aber sie war damals in dem Verein aktiv und erlebte alles aus nächster Nähe mit. „Wir waren eine echte Clique und alle um die 13 Jahre alt“, erinnert sie sich. „Schwimmen war unser Leben.“Ihr Trainer wusste das. Es gab ihm die Macht, zu tun, was er tat. Im Verein errichtete er ein System aus Angst und Abhängigkeiten. „Uns war schon bewusst, dass das nicht sein darf, was er tat. Aber vor ihm haben alle gekuscht. Er hat regelmäßig Wutanfälle bekommen und war sehr cholerisch. Wir hatten einen Heidenrespekt, fast schon Angst vor ihm. Gleichzeitig wollte jeder dem Trainer mit guten Leistungen gefallen.“
Innerhalb der Gruppe sei über alles gesprochen worden. Auch über Jungs. Man war ja in der Pubertät. „Und dann kamen eben die Geschichten auf, dass unser Trainer jemanden geküsst oder bei Massagen Stellen berührt hat, die er nicht berühren darf.“Immer wieder seien in der Clique solche Geschichten erzählt worden. Das System der Angst aber hielt. Bis sich zwei aus der Gruppe einer älteren Sportlerin anvertrauten. Die fiel aus allen Wolken, dass der Trainer sich auch an den jüngeren Mädchen vergangen hatte. „Danach wusste ich, dass ich mit meinen Eltern darüber sprechen musste“, sagt Martina.
Damit geriet ein Prozess ins Rollen, der nicht mehr aufzuhalten war. Mehrere Eltern stellten den Trainer zur Rede. Der schaffte es zunächst, sie von seiner Unschuld zu überzeugen. „Er hat alles komplett abgewiegelt. Im Verein wollten sie es vielleicht auch nicht sehen. Die Vorwürfe waren so krass, dass viele es wohl nicht für möglich hielten.“Das System der Angst und des Schweigens aber hatte Risse bekommen. Als sich ein anderes Mädchen ihren Eltern anvertraute, brach es zusammen. Sie gingen zur Polizei, der Trainer kam in Untersuchungshaft.
Im Dezember 2003 wurde der Mann zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Vor dem Kemptener Landgericht hatte er gestanden, sich an elf Mädchen vergangen zu haben. Zur Zeit des Missbrauchs waren die meisten zwölf oder 13 Jahre alt. Laut Staatsanwaltschaft habe der Trainer stets Gehorsam und Unterordnung verlangt. Wer ihm nicht gehorchte, lief Gefahr, nicht für Wettkämpfe oder Auswahlteams berücksichtigt zu werden. Immerhin: Mit seinem Geständnis ersparte er es den Opfern, vor Gericht aussagen zu müssen.
Für den Verein war der Fall ein Schock. „Die meisten von uns haben danach aufgehört mit dem Wettkampfsport“, erzählt Martina. Freundschaften gingen auseinander. „Es hat Jahre gedauert, bis sich der Verein von dieser Geschichte erholt hat.“Neue Trainer kamen und traten ein schweres Erbe an. Martina warnt davor, in solchen Fällen die Augen zu verschließen. „Lieber einmal zu viel etwas ansprechen als einmal zu wenig. Man muss es ja nicht gleich an die große Glocke hängen. Aber Kinder erfinden solche Geschichten nicht einfach.“
Von der damaligen Vereinsführung ist niemand mehr im Amt. Heute leitet Ullrich Kremser als Präsident die Geschicke des TV Kempten, der mit 4500 Mitgliedern einer der größten Vereine in Schwaben ist. Er sagt, die Sensibilität innerhalb des Vereins sei bei diesem Thema groß. „Sollte jemand diesbezüglich einen Hinweis geben, stehen wir sofort auf der Matte. Wir weisen
Der Fall kam nur sehr langsam ins Rollen Eine Expertin sagt: Es gibt eine hohe Dunkelziffer
unsere Abteilungsleiter immer wieder auf dieses Thema hin.“
Dass Vereine oft erst dann reagieren, wenn es bei ihnen Verdachtsfälle gibt, erlebt Jasmin Heptaygun regelmäßig. „Es scheint, als müsse immer erst etwas passieren, damit eine Entwicklung in Gang kommt.“Für den Landes-Sportverband berät sie Vereine in solchen heiklen Fragen. Heptaygun geht von einer hohen Dunkelziffer aus: „Was an Gerichten zu Verurteilungen führt, ist nur ein verschwindend geringer Bruchteil von dem, was in den Vereinen wirklich passiert.“Der Verband unterstütze die Vereine ja gerne, sagt sie. „Ob die Anregungen aber angenommen werden, liegt immer am Verein selbst.“Heptaygun bemängelt, dass die Prävention sexualisierter Gewalt noch nicht in allen Trainerausbildungen Thema sei: „Zwar werden die Übungsleiter geschult, wie sie sich zu verhalten haben. Aber die Maßnahmen reichen nicht aus, wir müssten sie ausbauen.“
Im Prozess gegen den Regensburger Ex-Jugendtrainer ist nach vier Verhandlungstagen alles offen. Aussage steht gegen Aussage. Die Verteidigung weist alle Vorwürfe zurück. Der Angeklagte schweigt weiterhin. Was die betroffenen Kinder als Zeugen ausgesagt haben, darüber dringt bis heute nichts an die Öffentlichkeit. Konkret beobachtet hat die Vorgänge niemand. Eltern und Polizeibeamte erinnern sich nur an wenige Details aus den Jahren 2013 und 2014.
Um den komplizierten Fall zu klären, hat das Landgericht sechs weitere Verhandlungstage angesetzt. Ein Sprecher sagt: „Vor Ende März ist kein Urteil zu erwarten.“