Wem nützt die Globalisierung?
Serie Die einen warnen vor wachsender Ungleichheit, die anderen schirmen das eigene Land ab: Das System der Weltwirtschaft und seine Zukunft sind stark umstritten. Eine Bilanz zwischen Fluch und Segen
Der bedrohliche Ton, den bis vor einigen Jahren nur linke Kapitalismuskritiker dem Begriff verliehen, wirkt inzwischen wie ein Mehrheitsurteil: Globalisierung. Viele Sorgen finden hier zusammen: vor einem Ausverkauf der heimischen Wirtschaft, vor Umweltzerstörung und Ausbeutung und damit immer neuen Fluchtursachen, vor dem Opfern aller Verbraucherinteressen zugunsten des Kommerzes, vor ansteigender Ungleichheit… Immer mehr Menschen verlangen von der Politik Schutz vor der Globalisierung. Aber stimmt dieses Bild denn?
„Das menschliche Leben ist heute besser als zu jedem früheren Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte“, hält Angus Deaton dagegen. Und der Ökonom aus Princeton, der den Nobelpreis für seine Analysen von Konsum, Armut und Wohlstand erhalten hat, sagt: Das ist dank Kapitalimus und Globalisierung so. Diese positive Sicht erläutert er in seinem Lebenswerk „Der große Ausbruch“ (Klett-Cotta, 460 S., 26 ¤). Er meint mit „Ausbruch“: Dass es Kraft der Dynamik der freien Marktwirtschaft immer mehr Menschen möglich war und ist, die Ketten von Armut, Elend und gesellschaftlicher Begrenzung abzulegen.
Deaton führt auf: Die Lebenserwartung ist stetig gestiegen; heute können vier Fünftel der Menschheit lesen; die Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, hat abgenommen; die Körpergröße als Indikator für Wohlstand und Gesundheit nimmt zu. Und das alles, obwohl in den vergangenen Jahrzehnten die Weltbevölkerung um vier Milliarden gestiegen ist. Die Geschichte von Kapitalismus und Globalisierung: „eine der dramatischsten, schnellsten und positivsten Veränderungen der Menschheitsgeschichte“.
Von Grenzen des Wachstums und der Entwicklung will Deaton nichts wissen, der technische Fortschritt werde Lösungen selbst für das Klima und den Krebs hervorbringen. So hält Deaton auch einen weiteren und noch breiteren Aufstieg für machbar – wenn die Prinzipien der Teilhabe am freien Markt, die bislang am meisten dem Westen zu einem Aufstieg in die Spitze verholfen haben, künftig wirklich allgemein gelten. Innerhalb eines Staates wie für die Welt gelte: Nur allgemeiner Aufstieg fördert das Wachstum. Wohlhabende Bürger dürften nicht „den Staatsapparat kapern“, wohlhabende Staaten sich nicht protektionistisch auf die Sicherung des eigenen Wohlstands beschränken. Deaton ist nicht neoliberaler Ideologe, sondern Vertreter der histori- schen Lehre, allein der Kapitalismus ermögliche den Segen eines guten Lebens in Freiheit. Ungleichheit schade nicht, sie bringe sogar die nötige Dynamik – es dürfe nur keine Abkoppelung der Welten geben.
Genau eine solche aber sehen all jene längst vollzogen, die die Probleme der Globalisierung betonen. Der Stuttgarter Soziologe Stephan Lessenich etwa beschreibt in „Neben uns die Sintflut“(Hanser, 224 S., 20 ¤), wie die reicheren Staaten die Folgen und Risiken ihres Wohlstands längst auf die ärmeren abwälzen – das „dunkle Gesicht“der westlichen Moderne: „Dass die einen externalisieren können und die anderen den Preis dafür zu zahlen haben, dass die einen das schaffen, was den anderen zu schaffen macht, ist eine veritable Systemfrage. Externalisierung hat System, und das System heißt modernes Weltsystem bzw. globaler Kapitalismus.“
Lessenich hat Beispiele. Etwa Kaffeekapseln. Zwei Milliarden werden davon in Deutschland jährlich verbraucht. Dafür braucht es Rohstoffe, die etwa in den BauxitMinen im brasilianischen Minas Gerais gefördert werden. Wo aufgrund der forcierten Ausbeutung vor eineinhalb Jahren der Damm eines Rückhaltebeckens brach. Die austretenden Rückstände vergifteten das Trinkwasser für 250000 Menschen und zerstörten die Existenzgrundlage der Fischer in der Region. Ähnliches bei Soja, Palmöl, Garnelen, Sand… Die Wohlstandszentren gewinnen, die Herkunftsländer der Rohstoffe ernten durch den wirtschaftlichen Zwang zur Marktgängigkeit „Armut und Ausbeutung, Gewalt und Zerstörung“.
Es ist, so Lessenich, eine Machtfrage. Und was für einen Grund sollte es geben, künftig auf einen „gleichen Tausch“zu hoffen? Ökonom Angus Deaton würde sagen: Dass der Westen solche Länder künftig auch als Märkte braucht, kann für verantwortlicheres Handeln sorgen. Der Soziologe Lessenich sagt: Die Globalisierung selbst sorgt dafür, dass die Risiken auf die Wohlstandsstaaten zurückfallen – durch Flüchtlinge. So kann Druck zur Übernahme für die Folgen der Externalisierung entstehen. Oder wiederum eine Abkoppelung der Wohlstandswelt in neuer Qualität.
Aber die Wohlstandswelt ist immer weniger staatlich organisiert. Wenn Publizist Hans-Jürgen Jacobs im Buch „Wem gehört die Welt?“(Knaus, 680 S., 36 ¤) über „die Machtverhältnisse im globalen Finanzkapitalismus“schreibt und (mit 50 Wirtschaftsjournalisten) die 200 reichsten und einflussreichsten Menschen der Welt porträtiert, dann sind das die Chefs weltweit agierender Firmen. Und wenn man von denen wiederum die sechs größten Player auf den globalen Märkten an einen Tisch setzen würden, wären das nicht Vertreter von Apple und Microsoft, dem Containerschiff-Riesen Maersk oder VW. Sondern: Larry Fink, Chef der 4,9 Billionen Dollar schweren US-Investmentgesellschaft Blackrock – die auch an allen Dax-Unternehmen nicht unerhebliche Anteile hält. Und Stephen Schwarzman, Chef von Blackstone, König aller aggressiveren Börsenakteure und größter Immobilienbesitzer der Welt; Warren Buffett als einflussreichster Einzelaktionär der Welt; Jamie Dimon von JP Morgan, Chef der wichtigsten amerikanischen Bank; Lou Jiwei, Chinas Finanzminister, Herr über zwei Staatsfonds und die vier größten Banken der Welt; Khalifa bin Zayed al Nahyan, Scheich von Abu Dhabi, quasi oberster Repräsentant arabischer Staatsfonds.
Jacobs: „Globalisierung polarisiert. Die Befürworter versprachen Wohlstand für alle, Ludwig Erhard worldwide sozusagen. Gegner dagegen fürchteten, dass Reiche reicher
Die Geschichte eines Erfolgs, der jetzt zu kippen droht
und Arme ärmer würden. Jetzt schaut man auf gut 25 Jahre Globalisierung und stellt verblüfft fest: Nichts davon stimmt. Aber das Problem ist dennoch größer geworden. Und das hat mit dem Aufkommen einer ganz neuen Finanzklasse zu tun. Inzwischen „machen die Finanzgeschäfte fast das Vierfache der Gütermärkte aus, stehen Anleihen, Aktien und Kredite in Höhe von fast 270 Billionen Dollar einer mehr oder weniger stagnierenden realen Wirtschaft von mehr als 73 Billionen Dollar gegenüber“.
Hierhin also hat sich die Dynamik der Weltwirtschaft verlagert, und hier wird entschieden, was wie viel wert ist, was finanziert wird. Unmengen von Geld, die da angelegt werden, mit Renditeerwartungen von acht bis zehn Prozent. Durch diesen Druck, so Jacobs, mit dieser Macht teilen Vermögensverwalter und Staatsfonds die Welt unter sich auf. In den Kapitalismus ist eine Unwucht gekommen, weil alle zuvor noch ordnenden Rückbindungen etwa an Realwirtschaft und Ressourcengesprengtwurden.Deutschland und Europa drohen in diesen Mechanismen zerrieben zu werden.
Aber welche Macht könnte sich entgegenstellen? Da sind sich Deaton, Lessenich und Jacobs einig: Nur eine politische Regulierung könnte das. Gemeinsam. Nicht abgekoppelt. Nur so wäre eine große Krise des Kapitalismus zu vermeiden. Und die führte erst recht in eine Krise von Freiheit und Wohlstand. Global. So stünden alle Errungenschaften auf dem Spiel.