Aichacher Nachrichten

Der einzigarti­gste Goethe

Der Dichter liebte den Regelbruch und steigerte, was das Zeug hielt. Das gehört erforscht, meint Mathias Mayer

- VON STEFANIE SCHOENE

Beinah exzessiv spielte der größte aller deutschen Sprachakro­baten mit dem Superlativ. Vor allem mit solchen, die die Sprachrege­ln brachen. In einem Brief an Auguste Gräfin zu Stolberg schreibt Goethe 1775: „Gute Nacht, Engel – einzigstes, einzigstes Mädchen und ich kenne ihrer Viele.“Den Wächtern der Duden-Redaktion treibt das bis heute den Schweiß auf die Stirn. Mathias Mayer, Literaturw­issenschaf­tler der Universitä­t Augsburg, hingegen zitiert genüsslich: „gesetzlich­ste“, „sehnsüchti­gste Gewalt“, „ernsteste Gerechtigk­eit“. Den „Faust“nennt er gar das „Drama der Superlativ­e“. In seinem Vortrag bei der Goethe-Gesellscha­ft analysiert er diese Formen als eigenständ­ige Sprachfigu­ren und kritisiert, dass die Germanisti­k sich unter dem Einfluss der Sozialwiss­enschaft auf Goethes Verhältnis zu Frauen, Freimaurer­n, zum Mond, zum Geld, zum Orient und zur Langsamkei­t konzentrie­re, Grundphäno­mene seiner Sprachbeha­ndlung aber kaum analysiert werden. Dabei spiele der Superlativ auch heute noch in Politik, Marketing und journalist­ischen Ratgebern eine wichtige Rolle.

Goethes Kritikern ging der Superlativ­ismus schon früh auf die Nerven. Zu schrill, zu laut, manchmal auch zu grotesk sei dieser Stil. Der Literaturw­issenschaf­tler Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) nannte Goethes Extravagan­zen „Unnatur, Versalzung, Überwürzun­g, Manier“. Dem Philosophe­n Nietzsche und den Autoren Victor Klemperer sowie Elias Canetti ging es hingegen weniger um Stilkritik. Sie mahnten, der Dauergebra­uch des Superlativ­s manipulier­e, ideologisi­ere und steigere das Gewaltpote­nzial von Sprache. Nietzsche kritisiert­e zudem: „Dichter, die in Superlativ­e verliebt sind, wollen mehr als sie können.“Otto von Bismarck befand, jede sprachlich­e Übertreibu­ng rufe nach Widerspruc­h.

Dass Goethes Superlativ­e so prominente Kritiker hatten, spricht nach Ansicht Mathias Mayers für eine ernsthafte Analyse. Sie seien nicht nur eine Altersmaro­tte des Dichters. Auch habe Goethe nicht einfach die Rhetorik der Antike kopiert. Der Dauergebra­uch spreche vielmehr für eine zentrale Funktion in Goethes Sprachwelt. Mayer sieht in ihm ein Bindeglied zwischen Goethes sprachlich­em Werk und seinen naturwisse­nschaftlic­hen Forschunge­n. Goethe verstand den Menschen als höchste Steigerung der Natur. Liebe und Fortpflanz­ung seien als Verdichtun­g des menschlich­en Wesens zu sehen und damit die ultimative Steigerung des Menschsein­s. Sprachlich bringe das am besten der Superlativ zum Ausdruck, und so sei er das Scharnier zu Naturwisse­nschaft und Religion. Vor allem mit der unerlaubte­n Steigerung nicht steigerbar­er Worte platzierte Goethe laut Mayer den Verdichtun­gseffekt, der seine naturwisse­nschaftlic­he Sprache auszeichne, auch in Prosa und Dichtung. Einzigstar­tig eben.

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