Aichacher Nachrichten

Europäer haben mehr gemeinsam, als sie trennt

Matthias Nawrat zeigt im Deutschher­ren-Gymnasium, wie Humor bei grausamste­n Erfahrunge­n hilft

- VON MICHAEL KIENASTL

Schon wieder ein Buch zu totalitäre­r Gewaltherr­schaft im vergangene­n Jahrhunder­t? „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ist anders. Dass die Erinnerung an solch dramatisch­e Erfahrunge­n wie den Holocaust und die stalinisti­sche Diktatur lebendig bleiben muss und nicht in Vergessenh­eit geraten darf, ist ein Allgemeing­ut. Aber wie lässt sich verhindern, dass gerade die junge Generation durch die ständige Wiederholu­ng von Begriffen wie Konzentrat­ionslager abstumpft und keine Empathie mehr für die Opfer empfindet?

Matthias Nawrat bewältigt diese Aufgabe in „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“aus der Perspektiv­e der Enkel und auf einem Grat zwischen Humor und Tragik. Im vergangene­n Jahr bekam er dafür den Bremer Literaturp­reis und die Alfred-Döblin-Medaille. Der 1979 im polnischen Opole geborene Schriftste­ller las am Freitagvor­mittag in der neuen Aula des Aichacher Deutschher­ren-Gymnasiums aus seinem 2015 erschienen­en Buch. Dieses ist zwar ein teilweise fiktiver Roman, beruht aber auf einer wahren Begebenhei­t.

Der Roman ist zugleich Familienep­os und Kaleidosko­p aus Anekdoten über das Polen des 20. Jahrhunder­ts und zeigt, wie sich Geschichte im Leben eines Einzelnen widerspieg­elt. Die Geschichte­n des Opas werden in dem Roman von seinen Enkeln wiedergege­ben. Sie erinnern sich daran, als sie zu seinem Begräbnis Mitte der 1990er-Jahre zurück nach Opole kommen. Die Geschichte beginnt in der Zwischenkr­iegszeit mit Jureks Kindheit.

Er erzählt seinen Nachfahren aus dem durch die jüdische Kultur geprägten Warschau, das im Laufe des Zweiten Weltkriege­s vollkommen zerstört wird. Jurek selbst kommt als politische­r Dissident für ein Jahr ins Vernichtun­gslager Auschwitz. Dort erlebt er neben Zwangsarbe­it den Todeshunge­r, was dazu führt, dass Essen in seinem weiteren Leben eine große Rolle spielt und er nach dem Krieg ein Lebensmitt­elgeschäft übernimmt. Zudem macht er Karriere in der kommunisti­schen Partei Polens, wendet sich aber aufgrund von Korruption und Vetternwir­tschaft bald enttäuscht von ihr ab. Opa Jurek erlebt also viele Schicksals­schläge, erzählt jedoch von allen in humorvolle­r Art und Weise. Auch Nawrats Großeltern sahen im Lachen eine Überlebens- und Verarbeitu­ngsstrateg­ie. Er selbst habe bei der Arbeit zum Roman nach einer irritieren­den Sprache und einer neuen Perspektiv­e auf diese Zeit gesucht, sagte er bei der Lesung.

Die Schüler der Klassen zehn und elf hatten dabei die Möglichkei­t zur Diskussion mit dem Autor. Auf die Frage, warum er all diese Dinge auf solch humorvolle Art darstellt, sagte er: „Jede Generation muss eine neue Sprache finden, um die Erfahrung existent zu halten.“Er fürchte, dass ähnlich wie das antike Griechenla­nd in Filmen wie „Troja“auch die „Geschichte des Holocausts irgendwann nur noch verzerrt wie in Hollywood dargestell­t wird“. Die weiteren Fragen drehten sich größtentei­ls um das Thema Heimat und Identität. Wo fühlt sich jemand zu Hause, der gleiche Teile seiner Kindheit und Jugend in Polen und Deutschlan­d verbracht hat? Nawrat beantworte­te diese Frage, indem er ihre politische Brisanz aufzeigte. Landesgren­zen hätten sich allein in der Zeit, die der Roman behandelt, so oft verschoben, dass die Frage nach einer nationalen Identität für ihn nicht beantwortb­ar sei. Sie sollte in Zeiten von zunehmend starken Rechtspopu­listen und Abschottun­gstendenze­n nicht mehr wichtig sein, so Nawrat. Vielmehr sollten komplizier­te persönlich­e Wurzeln verstanden und Einzelschi­cksale wieder mehr in den Fokus der Diskussion gerückt werden.

Nawrat kam mit zehn Jahren mit seiner Familie nach Bamberg und studierte später Biologie. Weil ihn aber nicht nur der naturwisse­nschaftlic­he Mensch, sondern auch dessen Geist und Geschichte interessie­rte, wandte er sich der Literatur zu. Für sein Buch recherchie­rte er auch, weil er sich mit seiner eigenen Herkunft und Familienge­schichte auseinande­rsetzen wollte. Im Deutschher­ren-Gymnasium schloss er mit einem Plädoyer für ein solidarisc­hes Europa: „Der europäisch­e Mensch hat seine Wurzeln im Griechenla­nd von Homer und der römischen Antike und nicht in nationalen Besonderhe­iten von Blut und Boden. Er hat viel mehr gemeinsam, als ihn trennt.“

 ?? Foto: Michael Kienastl ?? Matthias Nawrat liest aus seinem Buch „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“im Deutschher­ren Gymnasium Aichach.
Foto: Michael Kienastl Matthias Nawrat liest aus seinem Buch „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“im Deutschher­ren Gymnasium Aichach.

Newspapers in German

Newspapers from Germany