Der Fortschritt bringt die Umwälzung – aber wohin?
1. Glauben Sie, dass der Kapitalismus heute für ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich sorgt? 2. Glauben Sie, dass es eine immer stärkere Ballung des Geldes in den Händen weniger gibt und damit eine Verschiebung der Macht? 3. Glauben Sie, dass die Regierenden nicht mehr imstande sind, diese Dynamik zum Wohle der großen Mehrheit zu kontrollieren? 4. Glauben Sie, dass diese Entwicklung auf Kosten des normalen Arbeiters geht und dass der daraus bei ihm wachsende Unmut gefährlich für die Demokratie werden wird? 5. Sind Sie Marxist?
Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass Sie die letzte Frage entschieden mit Nein beantworten. Weil Sie doch schließlich weder Kommunist sind noch von der großen Erhebung der Arbeiterklasse träumen. Aber die vorherigen vier Fragen? Gibt es nicht für all das aktuell deutliche Anzeichen? Um nur ein Beispiel zu nennen: Auch Joseph Stiglitz, immerhin Träger des Wirtschaftsnobelpreises, rechnet am Beispiel Großbritannien vor, wie die Finanzeliten der Gesellschaft das Geld entziehen. Wurden um 1970 noch etwa zehn Prozent der Gewinne von Unternehmen an ihre Gesellschafter ausgeschüttet und der Rest investiert – heute beträgt die Quote der Ausschüttung 70 Prozent. Und das bedeute, so der Wirtschaftsprofessor, eine stetig steigende Gefahr für die Stabilität unserer Staaten. Wirtschaftlich, sozial, politisch.
Aber auch Karl Marx investierte ja einst sein immer knappes Geld in Aktien – wenn auch ohne jeglichen Erfolg. Und vor allem betonte dieser Karl Marx, er sei ganz sicher eines nicht: Marxist! Nicht der Chefideologe des Kommunismus, nicht die Ikone der Kapitalismuskritik, nicht der Aufrührer und Anführer des Klassenkampfs also, zu dem er trotzdem noch lange nach seinem Tod am 13. März 1883 auf Fahnen und Postern erstarrt schien. Was war, was sagte, was wollte er dann?
Das eben hängt nun wesentlich mit den ersten vier Fragen zusammen. Uns heute sehr aktuell scheinenden Fragen. Und darum wirkt dieser Karl Marx nun auch wie aus seiner Ikonenstarre erwacht.
Darum darf er nun nicht nur, gespielt von August Diehl im Kinofilm „Der jungte Karl Marx“, seit Donnerstag visionär tönende, frühe Sätze einem gewiss nicht bloß kleinen und gewiss nicht bloß linken Publikum aufsagen: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen“; „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern!“; da war er noch nicht mal Mitte 20… Und über Karl Marx wird nicht nur so viel geschrieben wie nie zuvor, weil sich diesen November die Veröffentlichung seines späten Hauptwerkes, „Das Kapital (Teil 1)“, zum 150. Mal jährt, und weil 2018 sein 200. Geburtstag ansteht. Durch seine Gedanken zu Fragen wie den ersten vier Fragen spielt er vor allem auch eine Rolle in den aktuellen Debatten über Fluch und Segen des Kapitalismus. Die Zweifel haben auch ohne Marx in Zeiten der Digitalisierung und der Globalisierung deutlich zugenommen. Aber was kann man denn nun darüber mit Marx besser verstehen?
Dazu muss man gerade den frühen Marx weitestgehend hinter sich lassen, der mit Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“1848 noch schloss: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“Denn dieser Marx führt tatsächlich in den globalen Klassenkampf. Mit einem seiner heute wirkmächtigsten Ausdeuter gesprochen, dem philosophischen Debattenkönig Slavoj Zizek aktualisiert: In der Globalisierung werden die Arbeiter der Wohlstandswelt genauso ausgebeutet wie die Bevölkerung in ärmeren Ländern. Statt aber miteinander um die Brotkrumen der Weltwirtschaft zu ringen, wachsendes Prekariat gegen wachsende Flüchtlingsströme, müssten die Unterdrückten gemeinsam eine Teilhabe einfordern. Nun mag zwar auch Wolfgang Schäuble einräumen, eine Rettung Europas hänge unweigerlich mit einer Rettung Afrikas zusammen. Aber der Traum von einer Revolte der Klassensolidarität über alle Grenzen hinweg bringt in Wirklichkeit wohl nur Mehrheiten für viel härtere Grenzen. Und wie viel bei einem oben verordneten Heil im Namen irgendeines Marxismus von Gerechtigkeit übrig bleibt, davon konnten sich Deutschland und die Welt auch schon überzeugen…
Viel fruchtbarer ist ein anderer Marx. Der nämlich wollte vor allem verstehen. Wie Gesellschaften funktionieren, wann es zu Krisen des Systems und zu Umwälzungen der Gesellschaft kommt. Und entscheidend dafür ist die wirtschaftliche Entwicklung und eben dabei der technische Fortschritt. So sieht Marx im Aufkommen des Kapitalismus ja zuallererst auch eine Befreiung aus der ständischen Gesellschaft – die nur möglich war durch die Errungenschaft der Dampfmaschine. Denn durch eine Entwicklung wie diese stiegen plötzlich die Produktionskräfte an, und diese sorgten für Druck auf die Produktionsverhältnisse und dadurch auch den gesellschaftlichen Überbau. Das heißt: Zunächst sprengen die neuen Möglichkeiten die Formen, in denen das wirtschaftliche Leben bis dahin in einer Gesellschaft organisiert ist, sie verlangen etwa nach einem anderen Unternehmertum – und ist diese Dynamik groß genug, muss sich auch die juristische und politische Struktur ändern. Rein funktional gedacht. Um die gesellschaftlichen Unwuchten in ein neues, produktives Gleichgewicht zu bringen.
Und so hatte Marx es dann auch auf den Kapitalismus übertragen, hier ausgelöst durch die industrielle Revolution. Denn auch hier führte ja der Fortschritt zu einem dramatischen Anstieg der Produktivkräfte – mussten also nicht die nächsten Umwälzungen folgen? Die Hoffnung, von der seine Analyse dabei getragen war: Dass diese Umwälzungen wie im Fall der Auflösung der Ständegesellschaft zu einer immer breiteren Teilhabe der Menschen am wirtschaftlichen Fortschritt führen sollte. Auch, weil das immer breiter erwachende Bewusstsein der Bürger danach verlange und die neuen Unwuchten erkenne. Denn der Mensch und sein Bewusstsein ist nach Marx ja Produkt der Verhältnisse. Wohl träumte Marx dadurch von einer schlussendlichen Reife der Menschen und Gesellschaften für den Kommunismus, dank des Fortschritts. Aber die tatsächlich gravierenden Unsicherheiten und Umwälzungen, die auf die industrielle Revolution schließlich folgten, waren Weltkriege und Diktatur.
Hatte Marx also Unrecht? Trotz einiger Belebungsversuche etwa durch die 68er schien er nach der deutschen Wiedervereinigung beerdigt: Der US-Ökonom Francis Fukuyama rief „Das Ende der Geschichte“aus – denn hatte nicht der Siegeszug des in der Demokratie eingehegten Kapitalismus gezeigt, dass Teilhabe durch ein Wachstum ohne Grenzen am besten durch dieses eine System zu gewährleisten war? Zwar gab es Ungleichheit, aber als Motor der Entwicklung – während Marx glaubte, immer größerer Reichtum weniger Kapitalisten müsse bei weiterem Fortschritt zu neuen Umwälzungen führen.
Heute, 25 Jahre nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte, in Zeiten des nächsten großen Fortschritts, der nächsten industriellen Revolution, digital und global – wirken diese Gewissheiten noch immer so unumstößlich? Denn damit sind wir wieder bei den ersten vier Fragen. Mit Marx unsere Gegenwart lesend könnte man sagen: Wir erleben nicht nur einen dramatischen Wandel der Produktivkräfte, sondern ja auch bereits der Produktionsverhältnisse; ein Hybrid aus Internetund Finanzkapitalismus überlagert die bisherigen Ordnungen des Wirtschaftens zusehends und generiert dabei ganz neuen Wohlstand; ist die Dynamik groß genug, dass im gesellschaftlichen Überbau Druck zu Umwälzungen entsteht? Wenn Sie alle vier ersten Fragen mit Ja beantwortet haben, hegen Sie zumindest gravierende Zweifel an der Stabilität der so lange unverbrüchlich scheinenden Verbindung zwischen Kapitalismus und Demokratie. Für dieses Unbehagen muss heute niemand Marxist sein, es kommt von links wie rechts – und auch aus der Mitte.
Damit stellt sich heute eine Frage im Angesicht der Geschichte wieder: Wird der technische Fortschritt diesmal zu einer breiteren Form der Teilhabe führen? Oder ins Autoritäre? Denn hier irrte Marx: Der Kapitalismus ist sehr wandlungsfähig, mit ihm ist all das zu machen. Mit der Demokratie aber nicht. Es bleibt wohl wirklich eine Frage des Bewusstseins. Für Marx aber bildete sich dieses automatisch aus den Lebensverhältnissen – für uns dagegen bleibt offen, was sich ergibt aus jenen ersten vier Fragen.