Aichacher Nachrichten

Sie wollte ihre beiden Kinder abholen. Jetzt ist sie tot Im Angesicht des Terrors

Am Morgen nach dem Anschlag erwacht London mit einer gehörigen Portion Trotz. Wir lassen uns nicht unterkrieg­en, sagen die Menschen demonstrat­iv. Und feiern einen Politiker, der verzweifel­t um das Leben eines Opfers gekämpft hat

- VON KATRIN PRIBYL

Der Bruder starb 2002 bei den Anschlägen auf Bali

Draußen wehen die Fahnen auf halbmast, die Hubschraub­er kreisen unermüdlic­h über dem Westminste­r-Palast. Und drinnen kämpft der stille Held sichtlich mit seinen Emotionen. Er presst die Lippen aufeinande­r und nickt nur kurz und peinlich berührt zum Dank, als Premiermin­isterin Theresa May ihn im Parlament für seinen Einsatz lobt. Alle Augen sind auf Tobias Ellwood, 50, gerichtet. Jenem Abgeordnet­en der Konservati­ven, Staatssekr­etär im Außenminis­terium, der diesem Morgen in London bei all der Grausamkei­t und Trauer so etwas wie Menschlich­keit verleiht. Und gleichzeit­ig auch eine unglaublic­he Tragik.

Zu diesem Zeitpunkt haben die ersten Medien bereits Fotos verbreitet, die Ellwood am Vortag am Ort des Terrors zeigen. Wie er sich direkt vor dem Parlaments­gebäude in seinem Anzug über den schwer verletzten Polizisten Keith Palmer beugt. Wie er versucht, ihn mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassag­e wiederzube­leben. Wie er nach den erfolglose­n Maßnahmen ratlos, erschöpft und fast einsam in der Gruppe der Helfer steht, Stirn und Hände blutversch­miert.

In der Tat steht sein Gesicht für die menschlich­e Seite dieses unmenschli­chen Terroransc­hlags, bei dem am Mittwochna­chmittag fünf Menschen getötet und rund 40 verletzt wurden, darunter auch eine Deutsche. Ein Verbrechen, dessen Täter nun auch einen Namen hat: Khalid Masood, ein in der Grafschaft Kent geborener 52-jähriger Mann, den die Behörden aufgrund von Gewaltdeli­kten und unerlaubte­m Waffenbesi­tz schon kannten. Und der angeblich „im Auftrag“des sogenannte­n Islamische­n Staates handelte, wie dieser behauptet.

Er war es, der auf der Westminste­r-Brücke im Zentrum Londons mit einem grauen Hyundai Tucson auf den Bürgerstei­g raste und laut Augenzeuge­n mehrere Menschen „regelrecht ummähte“. Später krachte das Auto in einen Zaun. Masood stieg aus und stach beim Versuch, in den Westminste­r-Palast einzudring­en, mit einem langen Messer auf den 48-jährigen, unbewaffne­ten Polizisten und Familienva­ter Keith Palmer ein, der seit 15 Jahren zu der Einheit gehörte, die mit der Sicherheit des Parlaments betraut ist. Schließlic­h erschossen Beamte den Angreifer.

Unter den Toten ist Aysha Frade. Die Britin, 43, Lehrerin mit spanischen Wurzeln, wollte gerade ihre beiden Kinder, acht und elf Jahre alt, von der Schule abholen, als sie von dem Auto erfasst wurde. Auch der US-amerikanis­che Tourist Kurt Cochran verlor auf der Brücke sein Leben. Er und seine Frau, die noch im Krankenhau­s liegt, waren nach London gereist, um ihren 25. Hochzeitst­ag zu feiern. Noch nichts bekannt ist über den 75 Jahren alten Mann, der sehr schwer verletzt wurde und dessen Tod die Londoner Polizei am späten Donnerstag­abend mitteilte. Unter den Verletzten sind zwölf Briten und eben eine Deutsche, aber auch Franzosen, Rumänen, Südkoreane­r, ein Pole, ein Ire, ein Chinese, ein Italiener und zwei Griechen.

Es überrascht nicht, dass die Opfer aus so vielen Ländern stammen. Die Attacke traf London mitten ins Herz. Hier drängen sich die Touristenm­assen auf den Gehsteigen, Parlaments­angestellt­e hasten in ihre Büros, Bürger treffen auf ihre Abgeordnet­en. Westminste­r ist das Zentrum der britischen Demokratie, Wahrzeiche­n der Stadt und gleichzeit­ig Pflichtsta­tion aller Besucher. Am Mittwoch jedoch übertönte Sirenengeh­eul die tiefen Schläge der berühmten Glocke Big Ben.

In den heiligen Hallen des Unterhause­s, das am Tag danach wie gewohnt zusammenko­mmt, sagt Theresa May nach einer Schweigemi­nute: „Wir haben keine Angst, und unsere Entschloss­enheit wird angesichts des Terrorismu­s niemals wanken.“Die Regierungs­chefin hat am Abend zuvor zu der Sitzung aufgerufen. Die Londoner würden aufstehen, hat sie gesagt, und ihren Tag wie immer verbringen.

Tatsächlic­h, die Metropole macht weiter. In einer Mischung aus Schock und Trotz, Trauer und Kampfeslus­t pendeln die Menschen zur Arbeit, joggen in den Parks, kehren in Cafés ein und gehen shoppen. In U-Bahn-Stationen sollen Botschafte­n auf Schildern den Fahrgästen Mut machen. „Alle Terroriste­n werden höflichst daran erinnert, dass das hier London ist und dass wir – egal was ihr uns auch antut – Tee trinken und uns nicht unterkrieg­en lassen werden“, heißt es etwa. Das Regierungs­viertel füllt sich mit Menschen, und selbst die Westminste­r-Brücke ist schon nach 24 Stunden wieder geöffnet. Es dauert nur wenige Minuten, bis Trauernde hier Blumen zum Gedenken an die Opfer niederlege­n.

Und trotzdem: Anspannung und Betroffenh­eit sind spürbar. „Uns ist schon ein bisschen mulmig zumute“, sagt Ann, 23-jährige Kellnerin eines Fast-Food-Restaurant­s am Oxford Circus. „Aber wenn wir aufhören, unseren Alltag zu leben, haben die Bösen gewonnen.“Ein spanisches Paar, das Urlaub macht, nickt zustimmend und macht sich auf zum Buckingham-Palast. Am Abend gibt es am Trafalgar Square eine Mahnwache, bei der tausende Kerzen an die Opfer erinnern.

Als es in der Nacht zum Donnerstag endlich Entwarnung gab, herrschte im Regierungs­viertel noch gespenstis­che Stille. Auf der Westminste­r-Brücke standen in der Dunkelheit die Doppeldeck­er-Busse und Autos, deren Insassen Zeugen der schrecklic­hen Minuten am Nachmittag geworden waren. Nun ragten die Fahrzeuge wie Mahnmale aus der Sperrzone. Als vor der National Gallery am Trafalgar Square eine Rangelei zwischen zwei Obdachlose­n ausbrach, eilte in Sekundensc­hnelle gleich ein Dutzend Beamte herbei. Die Polizei in ihren neongelben Jacken, sie war überall.

Um die Ecke wartete derweil eine durchgefro­rene Schulklass­e aus Thüringen seit Stunden auf ihren Reisebus, der sie aus der Hauptstadt in ihre Unterkunft im fern gelegenen Bournemout­h bringen sollte. „Wir haben Angst“, gab einer der Schüler zu. Es sollte nicht die einzige Besuchergr­uppe sein, die am Abend schockiert, aber erleichter­t die Stadt verließ. Vor der neuen Zentrale von Scotland Yard standen Kamerateam­s und warteten auf Neuigkeite­n. Eigentlich hätte das Domizil gestern von der Königin eingeweiht werden sollen. So weit kommt es nicht. Dafür spricht die Queen öffentlich den Opfern und Angehörige­n ihr Mitgefühl aus.

Dieser Tag weckt bei den Briten schlimme Erinnerung­en an den 7. Juli 2005. Damals sprengten sich in London vier Selbstmord­attentäter der Islamisten-Gruppe Al-Kaida in drei U-Bahn-Zügen und einem Bus in die Luft und ermordeten 52 Unschuldig­e. Der Horror von 7/7 löste ein nationales Trauma aus, das bis heute nicht überwunden ist. Seitdem bestimmt das Sicherheit­sthema die Debatten. Schon lange gilt für London die zweithöchs­te Terrorwarn­stufe, nach der ein Anschlag für „sehr wahrschein­lich“gehalten wird. Diese werde trotz der Attacke nicht erhöht, bekräftigt Theresa May. Bürgermeis­ter Sadiq Khan weist darauf hin, dass die Behörden in den vergangene­n Jahren 13 Anschläge vereitelt hätten. Seit geraumer Zeit sind zusätzlich­e Sicherheit­skräfte im Einsatz. Überwachun­gskameras hängen an fast jeder Straßeneck­e, an Plätzen, auf Bahnhöfen, in Kaufhäuser­n.

Diesen Anschlag konnten auch sie nicht verhindern. So wie Tobias Ellwood das Leben von Keith Palmer nicht retten konnte. Welche Tragik steckt in seiner Geschichte. Schon einmal musste der Abgeordnet­e schmerzlic­he Erfahrunge­n mit dem Terror machen. Bei den Anschlägen in zwei Diskotheke­n auf Bali im Jahr 2002 verlor er seinen Bruder. Nun bekommt der frühere Berufssold­at Anerkennun­g aus allen Teilen der Welt. „Manchmal vergessen wir, dass unsere Abgeordnet­en Menschen sind. Gestern haben Sie uns gezeigt, dass sie auch außergewöh­nlich mutig sein können. Vielen Dank“, twittert eine Britin.

Die Londoner versuchen, sich auf das Positive zu besinnen. Und das zutiefst britische Mantra „Keep calm and carry on“zu beherzigen: weitermach­en, den Terroriste­n zeigen, dass man sich nicht einschücht­ern lässt. Auch wenn das in diesen Stunden schwerfäll­t.

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Foto: Stefan Rousseau/PA Wire, dpa Dramatisch­e Szenen am Tatort: Tobias Ellwood, Staatssekr­etär im Außenminis­terium, hat Blutflecke­n im Gesicht. Bis eben hat er versucht, mit Mund zu Mund Beatmung das Leben eines Polizisten zu retten – vergeblich.
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Foto: Dominic Lipinski/PA Wire, dpa Blumen vor dem Parlament: Jemand hat ein Foto des ermordeten Polizeibea­mten Keith Palmer aufgestell­t.
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Foto: Justin Tallis, afp Der Tag danach: Die Polizei sichert wei tere Spuren.

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