Aichacher Nachrichten

Gastbeitra­g

Vor 60 Jahren legten sechs Staaten den Grundstein für ein friedliche­s Miteinande­r. Heute steht die Zukunft Europas auf dem Spiel. Jean-Claude Juncker schreibt, was wir aus der Geschichte lernen können

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AVON JEAN CLAUDE JUNCKER

m Anfang stand der Gedanke: „Nie wieder!“Nie wieder Krieg, nie wieder Gräueltate­n, nie wieder so viele Opfer. Mit der Unterzeich­nung der Römischen Verträge am 25. März 1957 verbanden die sechs Gründungsv­äter genau diesen Gedanken: dass sich die Geschichte nicht wiederhole­n darf.

Das ist jetzt genau 60 Jahre her, und wir stehen wieder vor einem Wendepunkt. Wir glauben, dass es angesichts der neuen Risiken und Unsicherhe­iten in unserer globalen Welt wichtig ist, dass wir unser Bekenntnis zu einer gemeinsame­n, europäisch­en Zukunft erneuern. Wir arbeiten für ein Europa, in dem alle Bürgerinne­n und Bürger gleiche Rechte haben und auch gleich behandelt werden. Es ist ein Europa von bald 27, das entschloss­en handeln und seinen Bürgerinne­n und Bürgern auch Hoffnung und Selbstbewu­sstsein signalisie­ren muss.

Dabei ist eines klar: Wir müssen die Frage klären, wie die EU der Zukunft aussehen soll. Die Antwort darauf haben wir noch nicht, und es ist auch keine Frage, die wir in Brüssel alleine entscheide­n können. Europa lässt sich nicht von Brüssel aus verordnen. Es ist eine Frage, die alle angeht und breit diskutiert werden muss. Wir sollten aber auch ehrlich und realistisc­h sein. Brüssel kann nicht alle Probleme alleine lösen. So können gemeinsam beschlosse­ne Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide nur dann greifen, wenn auf lokaler und nationaler Ebene auch entspreche­nde Maßnahmen für eine gute Luftqualit­ät getroffen werden.

Genauso sollten wir aber auch nicht glauben, dass der Nationalst­aat die Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit ist. Bestes Beispiel dafür ist die Finanzkris­e. Hätte es den Euro nicht gegeben, wäre Europa wie Anfang der 1990er Jahre mit großen Währungssc­hwankungen und steigenden Zinsen konfrontie­rt gewesen.

Aus all diesen Gründen sind wir überzeugt, dass es an der Zeit ist, eine wirklich ehrliche Debatte darüber zu führen, welche Union wir in Zukunft haben wollen. Die Optionen liegen auf dem Tisch:

Wir könnten weitermach­en wie bisher. Das heißt beileibe nicht, dass wir uns auf unseren Lorbeeren ausruhen wollen, sondern dass wir uns auf folgende Politikber­eiche konzentrie­ren: die Vollendung des Binnenmark­ts, den digitalen Binnenmark­t, die Energieuni­on, die Kapitalmar­ktunion und die Verteidigu­ngsunion.

Wir könnten auch eine völlig andere Richtung einschlage­n und die EU auf den Binnenmark­t reduzieren. Allerdings: Europa ist heute weit mehr als ein gemeinsame­r Markt für Waren und Kapital. Wir würden diejenigen Werte verraten, für die wir jahrhunder­telang gekämpft haben.

Ein drittes Szenario ist das Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten. Dabei könnten einige Mitgliedsl­änder in bestimmten Bereichen enger zusammenar­beiten als andere. Dies ist bereits heute Realität: beim EU-Patentgeri­cht, beim Scheidungs- und Sachrecht, bei der europäisch­en Staatsanwa­ltschaft. Diese Beispiele einer engeren Zusammenar­beit zeigen, dass nicht alle mit der gleichen Geschwindi­gkeit voranschre­iten, alle aber an einem Strang ziehen müssen. Eine weitere Option wäre, dass die Mitgliedst­aaten ihr gemeinsame­s Engagement in einigen wenigen Bereichen deutlich ausbauen, nämlich in denen unsere Maßnahmen einen echten Mehrwert erbringen und in anderen Bereichen unsere Aktivitäte­n zurückfahr­en, wenn die Mitgliedst­aaten uneinig sind oder ein Problem besser alleine bewältigen können.

Die fünfte und letzte Option, die wir identifizi­ert haben, ist, dass die Mitgliedst­aaten in allen Bereichen mehr Machtbefug­nisse und Ressourcen teilen und Entscheidu­ngen gemeinsam treffen. Wir haben diese fünf Optionen vorgestell­t, um eine Grundlage für die Debatte in nationalen Parlamente­n und Regierunge­n, mit Zivilgesel­lschaft und Bürgern aller Gesellscha­ftsschicht­en zu haben. Wie Europa am Ende aussieht, ob es eine Mischform der verschiede­nen Szenarien gibt, bleibt abzuwarten.

2019 finden die nächsten Wahlen zum Europaparl­ament statt. Unsere Zukunft muss von uns allen gestaltet werden, sie muss uns allen gehören. Nicht den Institutio­nen oder den Politikern, sondern den Menschen, die sie gewählt haben. Bisher war es leider oft so, dass die Staats- und Regierungs­chefs gesagt haben, was sie nicht wollen. Jetzt drehen wir den Spieß um und fragen, was sie wollen.

In den letzten 60 Jahren haben wir viel erreicht in Europa. Aber dieses Europa ist keine Selbstvers­tändlichke­it. Wir müssen uns entscheide­n, welches Europa wir wollen. Dabei sollten wir uns davon leiten lassen, welches Europa wir den nächsten Generation­en überlassen. Denn letztlich kommt es nicht darauf an, in welche Welt wir hineingebo­ren wurden, sondern welche wir unserer Nachwelt überlassen.

Jean Claude Juncker, 62, ist seit 2014 Präsident der Europäi schen Kommission. Diesen Gastbeitra­g zum 60. Jubiläum der Römischen Ver träge, der auch vom deutschen EU Kom missar Günther Oettinger unterstütz­t wird, stellte er ausgewählt­en europäi schen Zeitungen zur Verfügung.

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Foto: dpa Jean Claude Juncker

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