Er stalkte seine Tochter und beleidigte Gribl
Ein 63-Jähriger, der von 687 Strafanzeigen gegen sich spricht, muss in Haft. Er stellte seinem Kind nach und verleumdete auf Flugblättern unter anderem den Oberbürgermeister. War er schuldfähig?
Es war nicht der erste Prozess: „Im westlichen Landkreis spielt sich ein persönliches Drama ab. Ein 14-jähriges Mädchen ist seit Jahren das Opfer von Nachstellungen eines Mannes.“So berichtete unsere Zeitung im September 2013 über eine Verhandlung vor dem Augsburger Amtsgericht. Der 60 Jahre alte Angeklagte, damals nicht das erste Mal zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt, macht danach unbeeindruckt weiter. Obendrein startet er einen Rachefeldzug.
Auf Flugblättern, die er in Augsburg und in Stadtrandgemeinden verteilt, an Hauswände klebt, beleidigt und verleumdet er Pfarrer, Ärzte, die Justiz, Politiker – auch Oberbürgermeister Kurt Gribl. Seine Hartnäckigkeit hat einen tiefen Grund: Johann-Martin P. ist der leibliche Vater des Mädchens, Monika*. Das Sorgerecht ist ihm wie der Mutter längst entzogen.
Am Montag hat eine Jugendstrafkammer des Landgerichts den inzwischen 63-Jährigen unter anderem wegen Beleidigung, Verleumdung und Stalking zu einer Gefängnisstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt – nach elfmonatiger Prozessdauer. Es war ein Prozess, wie ihn die Augsburger Justiz so noch nicht erlebt hat. Schon allein, weil der prozesserfahrene Angeklagte das Recht, das die Strafprozessordnung Angeklagten einräumt, bis an die Schmerzgrenze ausgereizt hat. Richter Lenart Hoesch beklagte dies bei der Urteilsverkündung. Der Angeklagte, obwohl verteidigt von zwei Anwälten, befragte selbst stundenlang Zeugen. Nahezu jeder Prozesstag begann damit, dass P. Anträge stellte, auf mehr als 50 Seiten, die er zuvor handschriftlich in seiner Zelle sich notiert hatte. Dem 63-Jährigen, dem das Gericht hohe Intelligenz bescheinigte, schien es Spaß zu machen, Anwesende im Gerichtssaal zu beleidigen. Staatsanwalt Michael Nißl musste sich anhören, ein „geistiger Wildbiesler“zu sein, was dem Angeklagten fünf Tage Ordnungshaft einbrachte. Am letzten Prozesstag kam es abermals zu einem Eklat. „Sie leiden an paranoider Schizophrenie“beschimpfte der 63-Jährige den Richter.
Seit 1991 treibt Johann-Martin P. mit Polizei und Justiz ein Katz-undMaus-Spiel. Erst in Neuburg, seiner Geburtsstadt, dann ab dem Jahr 2000 in Augsburg. Es dürfte das 50. Mal sein, dass er jetzt vor Gericht stand. Die Justiz tut sich schwer mit genauen Angaben. Staatsanwälte in Ingolstadt und Augsburg kommen längst mit dem Zählen nicht mehr nach. Wie er selbst angibt, will er 687 Strafanzeigen erhalten haben. Die Justiz hat Johann-Martin P. lange für einen „Sonderling“gehalten, dem man „wenig Beachtung schenken und seinen Weg gehen lassen muss“. Ein Psychiater, der P. in den 90er Jahren untersucht, hält ihn damals für nicht zurechnungsfähig. Fortan landen Strafanzeigen gegen ihn im Papierkorb. Bis er anfängt, seiner Tochter nachzustellen. Ein Gericht hatte ihm den Kontakt zu ihr verboten. Monika wächst bei der Tante auf, die im Landkreis Augsburg wohnt. Wenn das Mädchen morgens zur Schule geht, steht P. entweder vor dem Wohnhaus, an der Bushaltestelle oder er hat sich vor ihrer Schule postiert. Er fotografiert sie, verteilt Flugblätter wirren Inhalts an Mitschüler.
Der Prozess kreiste um eine Frage: Ist Johann-Martin P. schuldfähig oder nicht? Gehört er ins Gefängnis oder muss er in die Psychiatrie eingewiesen werden? Zwei Gutachter, die den Prozess verfolgt haben, kamen zu gegensätzlichen Ergebnissen. Der Münchner Psychiater Thomas Schwarz hält den Angeklagten, dem er eine sich steigernde Schizophrenie attestiert, für schuldunfähig, aber zunehmend gefährlich. Anders sieht es Richard Gruber, der frühere Landgerichtsarzt. Der Psychiater erkennt bei P. eine „verminderte Schuldfähigkeit“jedoch keine „eindeutige Kriterien, die auf wahnhafte Vorstellungen hinweisen“, die den dauerhaften Entzug von Freiheit rechtfertigen. Dem folgte auch das Gericht in seinem Urteil. Er bedauere, sagte Richter Hoesch, beim Angeklagten keine psychiatrische Behandlung anordnen zu können. Zu befürchten ist, dass Johann-Martin P. nach seiner Haftentlassung weitermachen wird. Ende 2019 könnte es so weit sein, der 63-Jährige hat bereits 20 Monate U-Haft hinter sich. Opferanwältin Marion Zech hatte in ihrem Plädoyer beantragt, den Angeklagten in die Psychiatrie einzuweisen. „Dieser Horror wird für meine Mandantin sonst irgendwann weitergehen.“Ähnlich pessimistisch äußerte sich Gutachter Gruber. Um den Nachstellungen des Vaters zu entgehen, besucht Monika, inzwischen 18, ein Internat – weit weg von Augsburg. * Name geändert