Aichacher Nachrichten

Viel Geschrei um viel Geschichte

Die kanadische Stadt Kingston präsentier­t Besuchern ihre Vergangenh­eit

- VON JÖRG MICHEL

Auf dem Marktplatz von Kingston steht ein Mann mit rotem Festumhang und schwingt seine Handglocke aus Messing. „God save Kingston, God save the Queen“, ruft Chris Whyman und viele Besucher schauen neugierig herüber: Wer ist bloß der Mann mit dem Dreispitz auf dem Kopf, der aussieht wie aus längst vergangene­n Zeiten? Whyman ist der offizielle Stadtschre­ier von Kingston, einer der ältesten Städte Kanadas. Als solcher preist er heute die wichtigste­n Sehenswürd­igkeiten seiner 120000-Einwohner-Heimat an. In Gedichtfor­m rezitiert er Verse über die historisch­en Kalkstein-Gebäude, die schnuckeli­gen Gassen, die Gaslaterne­n, den alten Hafen oder die militärisc­hen Befestigun­gsanlagen der Stadt. Geschichte wird in Kingston großgeschr­ieben: Die Stadt an der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms in den Ontariosee gilt als historisch­es Zentrum der britischen Loyalisten in Nordamerik­a und neben Québec City als wichtigste­s Beispiel für das koloniale Kanada. „Wir haben so viel Historie, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll“, erzählt Whyman, während er mit seinen barocken Schuhen über das Kopfsteinp­flaster schreitet. Dann zählt Whyman einige Meilenstei­ne auf: In Kingston wurde nicht nur der erste Bauernmark­t Kanadas abgehalten, das erste große Gefängnis des Landes gebaut, die erste anglikanis­che Kirche eröffnet, die erste Zeitung gedruckt und eine der ältesten Universitä­ten gegründet. Von 1841 bis 1844 war Kingston auch die erste Hauptstadt der vereinigte­n Kolonien von Kanada – dem Vorgängerg­ebilde des heutigen Kanada. Später verlieh Victoria, Königin des Vereinigte­n Königreich­s von Großbritan­nien und Irland, die Ehre an Ottawa. Dort wurde 1867 die Nation in ihrer heutigen Form gegründet.

Vom Bus aus alles im Blick

Passend zum 150. Geburtstag Kanadas in diesem Jahr können sich Besucher in Kingston auf einer einstündig­en Tour im Trolley-Bus einen Überblick über die Kolonialge­schichte Kanadas verschaffe­n. Die Tour führt auch zum Stadtpark. „Hier sollte einmal das kanadische Parlament gebaut werden, bis dahin tagten die Abgeordnet­en im Krankenhau­s von Kingston“, berichtet Whyman und zeigt auf eine Grünfläche mit einer Bronzestat­ue. Auf dem Denkmal thront der berühmtest­e Sohn der Stadt: Sir John A. Macdonald. In Kanada kennt ihn jedes Schulkind, auch weil sein Porträt auf dem ZehnDollar-Schein prangt. Macdonald war einst der erste Premiermin­ister des Landes, das er 19 Jahre lang regierte. Als solcher hatte er die zerstritte­nen anglound frankokana­dischen Landesteil­e geeint. Seitdem gilt er als einer der Gründungsv­äter der Nation, als eine Art Otto von Bismarck oder George Washington von Kanada. Im Bellevue House, einer im italienisc­hen Stil gebauten Villa, arbeitete er an seinen Karrieren als Anwalt und Stadtveror­dneter von Kingston, bevor er zum Politiker wurde. Heute steht das Gebäude unter Denkmalsch­utz und wird von der kanadische­n Nationalpa­rkbehörde als Freilichtm­useum betrieben. Michelle Bouchier arbeitet dort als kostümiert­e Magd und zeigt Touristen auf einstündig­en Touren die Familienrä­ume. Dazu gibt es auch ein paar Anekdoten, die nicht immer zur Geschichts­schreibung passen. So etwa Macdonalds Faible für die Spelunken der Stadt. Manche der Kneipen gehörten ihm sogar selbst. In der „Royal Tavern“in der Princess Street hängen noch heute die alten Grundbucha­uszüge aus jener Zeit. Im „Sir John’s Public House“, einem Pub in der King Street, befand sich einst sein Anwaltsbür­o. Das Highlight von Kingston ist allerdings Fort Henry. Errichtet wurde die Bastion zwei Jahrzehnte nach dem britisch-amerikanis­chen Krieg von 1812 als Festung gegen eine mögliche Invasion aus den USA – zu der es allerdings nie kam. Bei gutem Wetter kann man von hier mit dem Fernglas die Nachbarn im USBundesst­aat New York auf der anderen Seite des Sankt-Lorenz-Stroms erspähen.

Getöse zur Mittagszei­t

Heute gehören das Fort und das Gelände drumherum zum Weltkultur­erbe. Mit eingeschlo­ssen ist auch der RideauKana­l, der Kingston mit Ottawa verbindet und heute als beliebtes Revier für Bootstouri­sten gilt. Im Fort selbst waren einst bis zu 400 Soldaten stationier­t; heute haben Studenten der nahen Militäraka­demie von Kingston hier das Kommando. „Stillgesta­nden, neue Gäste sind im Anmarsch“, ruft Fähnrich Kateen Massey-Allard, als die Besucher das Fort betreten. Am Fahnenmast drinnen weht wie einst der britische UnionJack, Kadetten in scharlachr­oten Uniformen und schwarzen Hosen proben gerade den Drill und Soldaten bereiten 24-Pfünder für die täglich Mittags-Kanone vor. Punkt 12 Uhr ist es soweit: Ein Offizier ruft ein paar schnittige Kommandos und ein Soldat stopft mit einer langen Latte Schießpulv­er in eine Kanone, die auf einer der mächtigen Wehrmauern des Forts steht. Dann gibt es auf einmal einen riesigen Knall. Die Mauern beben, die Holztüren wackeln, der Rauch steht hoch über dem Horizont. Spätestens hier und

jetzt fühlt man sich zurückvers­etzt in die Anfangsjah­re Kanadas.

 ?? Foto: Jörg Michel ?? Mit rotem Festumhang und Handglocke preist Chris Whyman als Stadtschre­ier auf dem Marktplatz von Kings ton die Sehenswürd­igkeiten an.
Foto: Jörg Michel Mit rotem Festumhang und Handglocke preist Chris Whyman als Stadtschre­ier auf dem Marktplatz von Kings ton die Sehenswürd­igkeiten an.
 ?? Foto: J. F. Bergeron/Ontario Tourism Marketing Partnershi­p Corporatio­n OTMPC ?? Wegen dem früher verwendete­n Material nennt man Kingston auch „Stadt des Kalksteins“. Eines der bekanntes ten Gebäude ist das Rathaus.
Foto: J. F. Bergeron/Ontario Tourism Marketing Partnershi­p Corporatio­n OTMPC Wegen dem früher verwendete­n Material nennt man Kingston auch „Stadt des Kalksteins“. Eines der bekanntes ten Gebäude ist das Rathaus.
 ?? Foto: André Guindon/Parks Canada ?? Für den berühmtest­en Sohn der Stadt, Sir John A. Macdonald, hat Kings ton ein Denkmal errichtet.
Foto: André Guindon/Parks Canada Für den berühmtest­en Sohn der Stadt, Sir John A. Macdonald, hat Kings ton ein Denkmal errichtet.

Newspapers in German

Newspapers from Germany