Paul Auster: Die Brooklyn Revue (4)
Ich stellte mein Glas auf den Tisch und bat ihn, mir den Inhalt seiner Arbeit zu skizzieren.
„Es geht um nicht existierende Welten“, sagte mein Neffe. „Es geht um die Flucht ins Innere, um den Ort, an den sich ein Mensch zurückzieht, wenn ihm das Leben in der realen Welt nicht mehr möglich ist.“„Die Welt im Schädel.“„Genau. Ich beginne mit Poe und einer Analyse dreier seiner am wenigsten beachteten Werke. ‹Die Philosophie der Einrichtung›, ‹Landschaft mit Haus› und ‹Der Park von Arnheim›. Für sich allein genommen ist jeder dieser Texte nur seltsam, verschroben. Nimmt man sie zusammen, hat man ein vollständiges System menschlicher Sehnsucht.“
„Ich habe diese Sachen nie gelesen. Ich glaube, ich habe sogar noch nie davon gehört.“
„Poe beschreibt dort das ideale Zimmer, das ideale Haus und die ideale Landschaft. Danach wechsle ich zu Thoreau und untersuche das
Zimmer, das Haus und die Landschaft, die er in Walden beschreibt.“„Also eine vergleichende Studie.“„Kein Mensch nennt Poe und Thoreau im selben Atemzug. Die beiden bilden die Extreme des amerikanischen Denkens. Aber das ist gerade das Schöne daran. Ein Säufer aus dem Süden - reaktionär in seinen politischen Überzeugungen, aristokratisch in seiner Haltung, chimärenhaft in seiner Phantasie. Und ein Abstinenzler aus dem Norden - radikal in seinen Ansichten, puritanisch in seinem Verhalten, hellsichtig in seiner Arbeit. Poe lebte in einer artifiziellen Welt, in mitternächtlicher Schwermut. Thoreau lebte in einer einfachen Welt, im hellen Sonnenschein. So verschieden, und doch wurden sie im Abstand von nur acht Jahren geboren, waren also im strengsten Sinne Zeitgenossen. Und beide sind jung gestorben - mit vierzig beziehungsweise fünfundvierzig. Zusammen haben sie gerade mal so lange gelebt wie ein alter Mann, und beide hatten keine Kinder. Thoreau ist sehr wahrscheinlich als Jungfrau ins Grab gegangen. Poe hat seine minderjährige Cousine geheiratet, aber ob diese Ehe vor Virginia Clemms Tod überhaupt vollzogen wurde, ist bis heute nicht geklärt. Man kann hier von Parallelen sprechen, man kann von Zufällen sprechen, aber diese äußeren Umstände sind weniger wichtig als die innere Wahrheit des Lebens dieser beiden. Jeder von ihnen fühlte sich in seiner extrem eigensinnigen Haltung dazu berufen, Amerika neu zu erfinden. In seinen Rezensionen und Kritiken kämpft Poe für eine neue bodenständige Literatur, eine amerikanische Literatur frei von englischen und europäischen Einflüssen. Thoreaus Werk ist eine unaufhörliche Attacke auf den Status quo, ein Kampf für ein neues Leben in Amerika. Beide haben an Amerika geglaubt, und beide haben geglaubt, Amerika sei zum Teufel gegangen, das Land sei von einem ständig wachsenden Berg aus Maschinen und Geld zu Tode gequetscht worden. Wie sollte man bei diesem Lärm noch denken können? Beide wollten da raus. Thoreau zog sich in die Umgebung von Concord zurück, stellte sich die Wildnis als sein Exil vor - einzig und allein, um zu beweisen, dass so etwas möglich war. Solange jemand den Mut hat, nein zu sagen zu dem, was die Gesellschaft von ihm verlangt, kann er zu seinen eigenen Bedingungen leben. Und warum? Um frei zu sein. Aber frei wozu? Bücher zu lesen, Bücher zu schreiben, zu denken. Frei, um ein Buch wie Walden zu schreiben. Poe auf der anderen Seite hat sich in einen Traum von Vollkommenheit zurückgezogen. Sieh dir ‹Die Philosophie der Einrichtung› an, da wirst du feststellen, dass sein imaginäres Zimmer genau zu diesem Zweck entworfen wurde. Als ein Ort, an dem man lesen, schreiben und denken kann. Eine Stätte der Besinnung, ein stilles Heiligtum, wo die Seele endlich ein gewisses Maß an Frieden finden kann. Unmöglich? Utopisch? Ja. Aber auch eine vernünftige Alternative zu den damaligen Lebensbedingungen. Denn es stimmt ja, Amerika war tatsächlich zum Teufel gegangen. Das Land war gespalten, und wir alle wissen, was ein Jahrzehnt später geschah. Vier Jahre lang Tod und Zerstörung. Ein Blutbad, angerichtet von ebenden Maschinen, die uns alle reich und glücklich machen sollten.“
Der Junge war so klug, so wortgewandt, so belesen, dass ich mich geehrt fühlte, mich zu seiner Familie zählen zu dürfen. Die Woods hatten in den letzten Jahren allerhand durchgemacht, aber Tom schien dank seiner nüchternen, überlegten, ziemlich nachdenklichen Einstellung zum Leben die Katastrophe der Scheidung seiner Eltern gut überstanden zu haben ebenso die stürmische Pubertät seiner jüngeren Schwester, die sich gegen die zweite Ehe ihrer Mutter aufgelehnt hatte und mit siebzehn von zu Hause weggelaufen war -, und ich konnte nur bewundern, wie fest er mit den Füßen auf dem Boden geblieben war. Er hatte wenig oder keinen Kontakt zu seinem Vater, der gleich nach der Scheidung nach Kalifornien gezogen war und einen Job bei der Los Angeles Times angenommen hatte, und empfand, ähnlich wie seine Schwester (wenn auch in stark gedämpfter Form), keine sonderliche Zuneigung oder Respekt für Junes zweiten Ehemann. Er und seine Mutter verstanden sich aber gut, und die beiden hatten das Drama von Auroras Verschwinden als gleichberechtigte Partner durchlebt, dieselbe Verzweiflung durchlitten und dieselben Hoffnungen gehegt, dieselben bösen Erwartungen, dieselben nie aufhörenden Sorgen geteilt.
Rory war eins der lustigsten, bezauberndsten Mädchen gewesen, die ich je gekannt habe: ein Wirbelwind, vorlaut, frech und neunmalklug, impulsiv und mutwillig bis zum Gehtnichtmehr. Seit ihrem zweiten oder dritten Lebensjahr hatten Edith und ich sie nur noch das Lachende Mädchen genannt; sie war die hauseigene Entertainerin der Woods, ein Clown, der mit den Jahren immer pfiffiger und wilder wurde. Tom war nur zwei Jahre älter als sie, aber er hatte sich immer um sie gekümmert, und seine bloße Anwesenheit hatte nach dem Fortgang des Vaters ihrem Leben Halt gegeben. Dann aber ging er aufs College, und Rory geriet außer Kontrolle - erst entwich sie nach New York, und dann, nach einer kurzzeitigen Versöhnung mit ihrer Mutter, verschwand sie ins Unbekannte. Als Toms Examen mit jenem Essen gefeiert wurde, hatte sie bereits ein außereheliches Kind geboren (ein Mädchen namens Lucy), war gerade lange genug nach Hause zurückgekommen, um meiner Schwester das Baby in den Schoß zu werfen, und dann aufs Neue verschwunden. Als June vierzehn Monate später starb, erfuhr ich von Tom auf der Beerdigung, dass Aurora vor kurzem wieder aufgetaucht war und das Kind zurückverlangt hatte - nur um nach zwei Tagen wiederum zu verschwinden. Zur Beerdigung ihrer Mutter erschien sie nicht. Vielleicht wäre sie gekommen, sagte Tom, aber sie hätten nicht gewusst, wie oder wo man mit ihr Kontakt habe aufnehmen können. »5. Fortsetzung folgt