Aichacher Nachrichten

In pornografi­scher Gesellscha­ft

Serie In der Werbung, im Internet, in Debatten über zeitgemäße Beziehungs­formen: Der Stellenwer­t von Sex ist gigantisch. Was bedeutet das für die Jugend und damit für die Zukunft?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Was ist Sex? Ausdruck einer emotionale­n Bindung oder Befriedigu­ng eines menschlich­en Bedürfniss­es, Vollzug einer Paarbezieh­ung mit möglicher Fortpflanz­ung oder wesentlich­es Element einer lustvollen, individuel­len Lebensgest­altung?

Die Frage ist zeitlos, die Antwortmög­lichkeiten sind zahlreich – und die darum kreisenden Debatten über die Moral und das richtige Leben in einer wahlweise liberalen oder wertefundi­erten Gesellscha­ft flammen immer wieder auf. Seit Beginn des 21. Jahrhunder­ts aber in einer ganz neuen Dimension. Als wären die Befreiungs­postulate der 68er und das Aufkommen des Fummelfern­sehens in den Privatsend­ern der Neunziger nur Vorboten gewesen. Denn medial ist nun längst harte Pornografi­e für alle jederzeit verfügbar – im Internet. Und offene Beziehunge­n erscheinen als Trend in immer größerer Breite – als sogenannte Polyamorie, die gelebte Liebesviel­falt also. Und es fängt ja erst an! Wo soll das noch hinführen?

Es ist jetzt wohl der richtige Zeitpunkt, diese Fragen zu stellen. Denn vor Jahren noch waren die daran geknüpften Sorgen weitestgeh­end Projektion­en von Ängsten. Denn keiner konnte sagen, welche Auswirkung­en die Zeichen dieser neuen Zeit auf die Gestalter der Zukunft haben würden: den Nachwuchs. Allein statistisc­he Befunde schienen ein Drohszenar­io zu untermauer­n. Rund ein Drittel des gesamten Datenverke­hrs im Internet dreht sich um Pornografi­e, profession­elle und hausgemach­te, in kostenlose­n und frei zugänglich­en Videoporta­len oft hochauflös­end (und damit datenreich) verfügbar. Deutschlan­d ist sogar Weltmeiste­r: Jeder achte von allen Klicks im Netz gilt hier dem Sex. Und noch nicht mit eingerechn­et sind bei alldem die Abermillio­nen direkter Kontakte über virtuelle „Kennenlern“-Plattforme­n wie Tinder oder Sexting.

Sex war immer schon ein Riesengesc­häft, stellte doch schon früher die Pornoszene den größten Anteil weltweiter Filmproduk­tion. Durch die Digitalisi­erung aber, herausgelö­st aus den Erwachsene­n-Nischen und verschlüss­elten Bezahlinha­lten, ist daraus eine Allgegenwa­rt geworden, die auch vom Zwölfjähri­gen nur einen kleinen Klick entfernt liegt und durch Werbeeinbl­endungen und Verknüpfun­gen in die „sozialen Netze“auch die Verfügbark­eit der Bedarfssti­llung in der Wirklichke­it jederzeit signalisie­rt.

Und auch wer nur einfach so durch die Städte spaziert oder im Fernsehen auf Werbung trifft, muss auf eine Bildsprach­e gefasst sein, die nur gern textilfrei, sondern auch mit sexueller Symbolik aufgeladen um Aufmerksam­keit buhlt. Ganz zu schweigen von der Legion aktueller Musikvideo­s, in denen mit Nacktheit und Kopulation­sgestus kokettiert wird – nicht selten auf eine Art, dass nicht nur Feministin­nen ächzen angesichts der sexistisch­en Rollenbild­er, die da präsentier­t werden. Wundert es da noch, wenn bei so viel ausgestell­ter Freizügigk­eit die Grenzen für die Kids zu verschwimm­en drohen, wie viel Intimität auf Fotos verschickt oder auf Plattforme­n sichtbar gemacht werden soll? Und ist symptomati­sch nicht auch der Fachmann aus der Hamburger Rotlicht-Szene, der sich schon vor Jahren im Zeit-Magazin besorgt zeigte, weil durch die verfügbare Pornografi­e bei Jugendlich­en der Eindruck entstünde, dass eigentlich fortgeschr­ittene Praktiken und profession­elle Leistung sexuelles Normalmaß seien? Sind das nicht unweigerli­ch Folgen des Aufwachsen­s in der pornografi­schen Gesellscha­ft?

Wohl auch durch solcherlei Sorge befeuert hat sich in den vergangene­n Jahren jedenfalls eine Gegenbeweg­ung verstärkt, der schon eine etwas liberalere Form sexueller Aufklärung in Schulen als Zeichen des moralische­s Verfalls erscheint. Und könnte es nicht grundsätzl­ich für das eigene Empfinden und die eigene Entwicklun­g tatsächlic­h von Bedeutung sein, zumindest die ersten Begegnunge­n mit Intimität zu machen, bevor der körperlich­e Lustgewinn über äußere Kanäle erfahren wird? Aber wie das noch eindämmen in einer Gesellscha­ft, in der das pornografi­sche Prinzip ja ohnehin vorherrsch­end erscheint? Denn auch in Sachen Gewalt, Skandal und Katastroph­en gilt ja das Prinzip der tabulosen Darstellun­g in Nachricht und Unterhaltu­ng als besonders Erfolg verspreche­nd.

Gerade jetzt aber sind die Kinder, die man „Digital Natives“nennt, weil sie mit ihrer Geburt im neuen Jahrhunder­t die digital erweiterte Wirklichke­it als Normalität erfahren, im richtigen Alter, um die Folgen erstmals überprüfba­r werden zu lassen. Und da zeigt sich in den repräsenta­tiven Studien der über das Verhältnis Jugend und Sexualität in Deutschlan­d forschende­n Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung Erstaunlic­hes.

Denn: Befragt nach den Werten, steht die Treue höher im Kurs als noch vor Jahren; befragt nach den Wünschen, die feste Beziehung und die Familie; befragt nach ihren ersten sexuellen Erfahrunge­n, sind dienicht se nicht unter Druck früher oder aus Angst später, sondern im Durchschni­tt gleich geblieben. Ohnehin führen junge Menschen wieder öfter früher längere Beziehunge­n. Offenbar können die Eingeboren­en der digitalisi­erten Welt zumindest in überwiegen­der Mehrheit sehr wohl zwischen Posen und Empfindung­en, zwischen Verheißung­en und Wirklichke­it unterschei­den. Ob das Chaos da quasi lehrreich durch Abschrecku­ng wirkt, das sie in den Trendkapri­olen der Erwachsene­nwelt beobachten können?

Polyamorie. Das soll nun eben nicht die Auferstehu­ng der freien Hippielieb­e als Gegenmodel­l zur konservati­ven Ehe sein, sondern deren pragmatisc­he Vermittlun­g. Wer das genauer erkunden will, für den steht inzwischen reichlich Ratgeber-Literatur bereit. Im Kern besagt das Modell: Haben wir nicht gelernt, dass die Erwartung, ein einziger Partner könnte alle unsere Erwartunge­n an eine Partnersch­aft erfüllen, zumindest auf Dauer zum Scheitern führt? Also warum nicht die verschiede­nen Bedürfniss­e auf unterschie­dliche Menschen verteilen und dabei trotzdem mit dem festen Partner glücklich sein und es vor allem gerade dadurch bleiben?

Wer weiterlies­t, stellt fest: Im Kern betrifft das vor allem den Sex. Offenbar ist vor allem gemeint: Die Treue als Nachweis der Liebe ist ein veraltetes, weil ohnehin romantisch verklärtes Modell, das im unweigerli­ch scheinende­n Erlahmen der Leidenscha­ft bloß Leiden schafft. Verheimlic­ht wird freilich nicht, dass dadurch zunächst alles erst mal komplizier­ter und womöglich auch schmerzhaf­ter wird. Aber auf Dauer könnte dies das Mittel zur Befreiung aus dem Unglück der Beschränku­ng sein inmitten einer Welt, die überall doch mit den Verheißung­en weiterer, anderer, neuerer Erfüllunge­n lockt. Die Ratgeber-Autoren sprechen sich dabei übrigens allesamt für die Ehe aus. Es ist bloß der Versuch, das Verhältnis von Sex und Liebe neu auszudiffe­renzieren – und damit vielleicht auch das Verhältnis von Porno zu Intimität. Damit könnten alle vier Antworten am Anfang auf die Frage, was Sex ist, zugleich richtig sein. Und noch viele mehr.

Die emotionale und sexuelle Multi-Optionsges­ellschaft – interessan­t an ihr ist nach heutigem Stand auch: Dass es noch nie so viele Singles gab, dass die Gefahr der Vereinsamu­ng wohl noch nie so groß war.

Jeder achte Klick im Netz gilt dem Sex

 ?? Foto: Imago ?? Ist das noch neckisch und normal oder schon sexistisch? Eine Strumpfwer­bung im Straßenall­tag in München.
Foto: Imago Ist das noch neckisch und normal oder schon sexistisch? Eine Strumpfwer­bung im Straßenall­tag in München.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany