In pornografischer Gesellschaft
Serie In der Werbung, im Internet, in Debatten über zeitgemäße Beziehungsformen: Der Stellenwert von Sex ist gigantisch. Was bedeutet das für die Jugend und damit für die Zukunft?
Was ist Sex? Ausdruck einer emotionalen Bindung oder Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses, Vollzug einer Paarbeziehung mit möglicher Fortpflanzung oder wesentliches Element einer lustvollen, individuellen Lebensgestaltung?
Die Frage ist zeitlos, die Antwortmöglichkeiten sind zahlreich – und die darum kreisenden Debatten über die Moral und das richtige Leben in einer wahlweise liberalen oder wertefundierten Gesellschaft flammen immer wieder auf. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts aber in einer ganz neuen Dimension. Als wären die Befreiungspostulate der 68er und das Aufkommen des Fummelfernsehens in den Privatsendern der Neunziger nur Vorboten gewesen. Denn medial ist nun längst harte Pornografie für alle jederzeit verfügbar – im Internet. Und offene Beziehungen erscheinen als Trend in immer größerer Breite – als sogenannte Polyamorie, die gelebte Liebesvielfalt also. Und es fängt ja erst an! Wo soll das noch hinführen?
Es ist jetzt wohl der richtige Zeitpunkt, diese Fragen zu stellen. Denn vor Jahren noch waren die daran geknüpften Sorgen weitestgehend Projektionen von Ängsten. Denn keiner konnte sagen, welche Auswirkungen die Zeichen dieser neuen Zeit auf die Gestalter der Zukunft haben würden: den Nachwuchs. Allein statistische Befunde schienen ein Drohszenario zu untermauern. Rund ein Drittel des gesamten Datenverkehrs im Internet dreht sich um Pornografie, professionelle und hausgemachte, in kostenlosen und frei zugänglichen Videoportalen oft hochauflösend (und damit datenreich) verfügbar. Deutschland ist sogar Weltmeister: Jeder achte von allen Klicks im Netz gilt hier dem Sex. Und noch nicht mit eingerechnet sind bei alldem die Abermillionen direkter Kontakte über virtuelle „Kennenlern“-Plattformen wie Tinder oder Sexting.
Sex war immer schon ein Riesengeschäft, stellte doch schon früher die Pornoszene den größten Anteil weltweiter Filmproduktion. Durch die Digitalisierung aber, herausgelöst aus den Erwachsenen-Nischen und verschlüsselten Bezahlinhalten, ist daraus eine Allgegenwart geworden, die auch vom Zwölfjährigen nur einen kleinen Klick entfernt liegt und durch Werbeeinblendungen und Verknüpfungen in die „sozialen Netze“auch die Verfügbarkeit der Bedarfsstillung in der Wirklichkeit jederzeit signalisiert.
Und auch wer nur einfach so durch die Städte spaziert oder im Fernsehen auf Werbung trifft, muss auf eine Bildsprache gefasst sein, die nur gern textilfrei, sondern auch mit sexueller Symbolik aufgeladen um Aufmerksamkeit buhlt. Ganz zu schweigen von der Legion aktueller Musikvideos, in denen mit Nacktheit und Kopulationsgestus kokettiert wird – nicht selten auf eine Art, dass nicht nur Feministinnen ächzen angesichts der sexistischen Rollenbilder, die da präsentiert werden. Wundert es da noch, wenn bei so viel ausgestellter Freizügigkeit die Grenzen für die Kids zu verschwimmen drohen, wie viel Intimität auf Fotos verschickt oder auf Plattformen sichtbar gemacht werden soll? Und ist symptomatisch nicht auch der Fachmann aus der Hamburger Rotlicht-Szene, der sich schon vor Jahren im Zeit-Magazin besorgt zeigte, weil durch die verfügbare Pornografie bei Jugendlichen der Eindruck entstünde, dass eigentlich fortgeschrittene Praktiken und professionelle Leistung sexuelles Normalmaß seien? Sind das nicht unweigerlich Folgen des Aufwachsens in der pornografischen Gesellschaft?
Wohl auch durch solcherlei Sorge befeuert hat sich in den vergangenen Jahren jedenfalls eine Gegenbewegung verstärkt, der schon eine etwas liberalere Form sexueller Aufklärung in Schulen als Zeichen des moralisches Verfalls erscheint. Und könnte es nicht grundsätzlich für das eigene Empfinden und die eigene Entwicklung tatsächlich von Bedeutung sein, zumindest die ersten Begegnungen mit Intimität zu machen, bevor der körperliche Lustgewinn über äußere Kanäle erfahren wird? Aber wie das noch eindämmen in einer Gesellschaft, in der das pornografische Prinzip ja ohnehin vorherrschend erscheint? Denn auch in Sachen Gewalt, Skandal und Katastrophen gilt ja das Prinzip der tabulosen Darstellung in Nachricht und Unterhaltung als besonders Erfolg versprechend.
Gerade jetzt aber sind die Kinder, die man „Digital Natives“nennt, weil sie mit ihrer Geburt im neuen Jahrhundert die digital erweiterte Wirklichkeit als Normalität erfahren, im richtigen Alter, um die Folgen erstmals überprüfbar werden zu lassen. Und da zeigt sich in den repräsentativen Studien der über das Verhältnis Jugend und Sexualität in Deutschland forschenden Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Erstaunliches.
Denn: Befragt nach den Werten, steht die Treue höher im Kurs als noch vor Jahren; befragt nach den Wünschen, die feste Beziehung und die Familie; befragt nach ihren ersten sexuellen Erfahrungen, sind dienicht se nicht unter Druck früher oder aus Angst später, sondern im Durchschnitt gleich geblieben. Ohnehin führen junge Menschen wieder öfter früher längere Beziehungen. Offenbar können die Eingeborenen der digitalisierten Welt zumindest in überwiegender Mehrheit sehr wohl zwischen Posen und Empfindungen, zwischen Verheißungen und Wirklichkeit unterscheiden. Ob das Chaos da quasi lehrreich durch Abschreckung wirkt, das sie in den Trendkapriolen der Erwachsenenwelt beobachten können?
Polyamorie. Das soll nun eben nicht die Auferstehung der freien Hippieliebe als Gegenmodell zur konservativen Ehe sein, sondern deren pragmatische Vermittlung. Wer das genauer erkunden will, für den steht inzwischen reichlich Ratgeber-Literatur bereit. Im Kern besagt das Modell: Haben wir nicht gelernt, dass die Erwartung, ein einziger Partner könnte alle unsere Erwartungen an eine Partnerschaft erfüllen, zumindest auf Dauer zum Scheitern führt? Also warum nicht die verschiedenen Bedürfnisse auf unterschiedliche Menschen verteilen und dabei trotzdem mit dem festen Partner glücklich sein und es vor allem gerade dadurch bleiben?
Wer weiterliest, stellt fest: Im Kern betrifft das vor allem den Sex. Offenbar ist vor allem gemeint: Die Treue als Nachweis der Liebe ist ein veraltetes, weil ohnehin romantisch verklärtes Modell, das im unweigerlich scheinenden Erlahmen der Leidenschaft bloß Leiden schafft. Verheimlicht wird freilich nicht, dass dadurch zunächst alles erst mal komplizierter und womöglich auch schmerzhafter wird. Aber auf Dauer könnte dies das Mittel zur Befreiung aus dem Unglück der Beschränkung sein inmitten einer Welt, die überall doch mit den Verheißungen weiterer, anderer, neuerer Erfüllungen lockt. Die Ratgeber-Autoren sprechen sich dabei übrigens allesamt für die Ehe aus. Es ist bloß der Versuch, das Verhältnis von Sex und Liebe neu auszudifferenzieren – und damit vielleicht auch das Verhältnis von Porno zu Intimität. Damit könnten alle vier Antworten am Anfang auf die Frage, was Sex ist, zugleich richtig sein. Und noch viele mehr.
Die emotionale und sexuelle Multi-Optionsgesellschaft – interessant an ihr ist nach heutigem Stand auch: Dass es noch nie so viele Singles gab, dass die Gefahr der Vereinsamung wohl noch nie so groß war.
Jeder achte Klick im Netz gilt dem Sex