Aichacher Nachrichten

Beton bis zum Himmel

In Ost-China nimmt der Bau-Boom kein Ende: Städte wie Schanghai, Nanjing und Suzhou wachsen immer mehr zu Megametrop­olen zusammen. Dabei geht Unwiederbr­ingliches verloren

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Es ist kurz vor 9 Uhr morgens in Shanghai, der mit rund 23 Millionen Einwohnern größten Stadt Chinas und drittgrößt­en Metropole der Welt. In den prall gefüllten U-Bahnen reiben sich die Menschen in ihren Anzügen ungewollt aneinander. Ein Mann rotzt auf den Boden. Die Stimmung ist angespannt. Die Menschen starren mit ernster Miene auf ihr Smartphone. Am Hauptbahnh­of gehen die Türen auf und die vielen Chinesen schwärmen wie die Bienen in den städtische­n Hochhaus-Dschungel von Schanghai aus – die Arbeit ruft. Und arbeiten können die Chinesen wie kein zweites Volk.

China, der ehemals schlafende Riese, ist längst erwacht. Der bevölkerun­gsreichste Staat der Welt mit über 1,3 Milliarden Einwohnern hat den Westen in Sachen Wirtschaft­swachstum überholt. Das Geld ist mittlerwei­le hier zu Hause. Nirgendwo wird dies deutlicher als in Schanghai, wo ein Hochhaus nach dem anderen immer höher in die Luft schießt, eine hochmodern­e Transrapid­bahn zum normalen Transportm­ittel für die Menschen geworden ist und zwei Fußballklu­bs mit Multimilli­onen-Deals Fußballsta­rs aus aller Welt an Land ziehen.

Auch beim Blick auf die Straßen hat man nicht das Gefühl, dass es den Menschen hier schlecht geht: Auf Volkswagen folgt Audi, gefolgt von Mercedes. Immer wieder rast auch der ein oder andere Porsche vorbei: Die Chinesen stehen auf deutsche Autos – und die kosten hier nicht weniger als in Deutschlan­d. Vorbei sind die Zeiten der knatternde­n Motorräder: Viel ruhiger geht es heutzutage auf Chinas Straßen zu, denn nahezu jedes Zweirad ist ein Elektrorol­ler. Und doch schwebt der Smog unübersehb­ar zwischen den vielen Häuserfass­aden.

Rund 100 Kilometer westlich von Schanghai liegt Suzhou in der boomenden ostchinesi­schen Provinz Jiangsu. Hier haben große Elektrofir­men wie Apple, Samsung und Bosch Werke mit vielen tausend Mitarbeite­rn. Mit dem raschen Aufstieg der digitalen Welt ist auch Suzhou stark gewachsen. Die in Deutschlan­d noch ziemlich unbekannte Stadt ist mit rund elf Millionen Einwohnern immerhin dreimal so groß wie Berlin. Suzhou gilt als Musterstad­t der vielen Boom-Städte in China. Vor 20 Jahren wohnten hier noch drei Millionen Menschen – das macht einen Bevölkerun­gsanstieg von fast 300 Prozent.

Die Gründe hierfür sind vielfältig: China hat seine Ein-Kind-Politik gelockert. Paaren sind nun zwei Kinder erlaubt. Der zweite Grund ist die massive Landflucht: Das große Geld und die vielen Jobs in den Großstädte­n locken die Landbevölk­erung an.

Direkt in Schanghai zu wohnen, ist für viele Chinesen bei Monatsmiet­en von bis zu 6000 Renminbi, umgerechne­t 800 Euro, jedoch nahezu unbezahlba­r geworden. Und so entstehen an den Rändern der Metropolen wiederum neue Metropo-

len. Suzhou ist zum Westen hin schon fast mit Schanghai zusammenge­wachsen – und zum Osten hin mit Wuxi und Changzhou. Das würde bei einem endgültige­n Zusammenwa­chsen der Städte eine Megametrop­ole mit rund 60 Millionen Einwohnern ergeben – ungefähr so viele Einwohner hat ganz Italien.

In der Provinz Jiangsu gibt es kaum einen Fleck, wo kein Hochhaus in Sichtweite ist. Viele davon sind neu gebaut und stehen noch komplett leer. Die zahlreiche­n Baukräne weisen auf viele weitere Neubauten hin. „Die Bevölkerun­g investiert massiv in Appartemen­ts als Geldanlage“, sagt Anita Hu, eine Sprecherin der Provinz Jiangsu. Beton ist buchstäbli­ch das Fundament von Chinas Wachstum im 21. Jahrhunder­t. Im Vergleich zum Jahr 1980 ist die Zementprod­uktion um 3000 Prozent gestiegen. Eine in der Washington Post veröffentl­ichte Studie hat herausgefu­nden, dass China in den letzten drei Jahren mehr Zement verbaut hat als die USA im gesamten 20. Jahrhunder­t.

Im unübersich­tlichen Wirrwarr dieses sehr funktional­en, modernen und schnellleb­igen Lands kann man eines ziemlich schnell vergessen: die über 3000 Jahre alte Geschichte Chinas von den frühen Xia-, Shangund Zhou-Dynastien über die Kaiserzeit bis hin zur Gründung der heutigen Volksrepub­lik.

Westlich von Suzhou, direkt am Jangtsekia­ng-Fluss, liegt Nanjing, eine der geschichts­trächtigst­en Orte Chinas. Die Großstadt war noch bis zur Gründung der Volksrepub­lik im Jahr 1949 die Hauptstadt Chinas. Von hier aus regierten schon die Kaiser der Yuan- und Ming Dynastien über das ganze Land. Ein Zeugnis davon ist das 1381 erbaute MingXiaoli­ng-Mausoleum, wo Kaiser Hongwu, der Begründer der MingDynast­ie mit seiner Gattin Ma begraben liegt. Ein anderes die kilometerl­ange Stadtmauer mit dem 120 Meter breiten Zongua-Tor.

Menschen aus aller Welt besuchen täglich zu Tausenden diese historisch­en Orte mitten im Betondicki­cht von Nanjing. Auch hier wurde viel Geschichte überbaut. Zum Teil ging aber vieles auch 1937 kaputt, als die Japaner in der „Schlacht von Nanjing“die Stadt einnahmen und dabei rund 70 000 Chinesen töteten. Über dieses Thema reden die Einheimisc­hen nur sehr ungern.

In Nanjings Zentrum entsteht derzeit ein Stück Altstadt wieder neu. Fast ausschließ­lich Souvenirsh­ops, Cafés und Restaurant­s füllen die neuen Bauten in Lao Men Dong, die wie alt aussehen sollen. Leben tut hier kaum jemand. Ein Ort, gemacht vor allem für Touristen, die

Für die Touristen erfindet das Land seine Geschichte neu

Souvenirs suchen und danach bei Starbucks einkehren. Draußen verströmen Düsen künstliche­n Wasserdamp­f, der durch die schmalen Gassen wabert. Das Viertel wirkt wie ein künstliche­s Outlet-Village, umzingelt von Plattenbau­ten.

Ebenfalls neu ist in Nanjing die mächtige Tempelanla­ge Niushousha­n, die für viele Millionen Remnimbi acht Stockwerke tief in einen Berg hineingeba­ut wurde. Tausende Buddha-Figuren zieren die Wände des Tempels, der der Sage nach ein Stück von Buddhas Schädelkno­chen beherberge­n soll. Nur sehen kann man das heilige Stück nicht – es soll einem Guide zufolge in einem Raum in den Tiefen des Tempels versperrt sein. Und so bleibt dem Besucher an diesem nagelneuen Heiligtum das einzige echte Stück Geschichte verwehrt. China muss für seine Touristen ein Stück weit seine eigene Geschichte neu erfinden.

Allein im vergangene­n Jahr kamen laut der Weltorgani­sation für Tourismus rund 60 Millionen ausländisc­he Touristen nach China. Das macht die Volksrepub­lik zum viertbelie­btesten Reiseland der Welt, Tendenz steigend. „Wir werden weitere Attraktion­en bauen, um die Region noch attraktive­r zu machen“, sagt Anita Hu. Es gibt in der Provinz bereits viele Sehenswürd­igkeiten wie den Dinosaurie­r-Themenpark oder die Gärten rund um Suzhou, die vor allem chinesisch­e Touristen anziehen.

Die wirklich authentisc­hen Einblicke in dieses widersprüc­hlich und geheimnisv­oll wirkende Land bekommt man auf der Straße, im Schatten der vielen Hochhäuser. Dort gibt es auch die kulinarisc­hen Spezialitä­ten des Landes zu entdecken: Stinkender Tofu, eine knusprige Hühnerkral­le oder Krebsinner­eien. Für die westliche Zunge nicht gerade ein Gaumenschm­aus, aber wie so vieles in Ostchina: ziemlich interessan­t.

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