Aichacher Nachrichten

Menschen mit Behinderun­g zieht es in die Stadt

Seit Inkrafttre­ten der UN-Konvention für eine gleichbere­chtigte Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben hat sich viel getan. In Augsburg werden zahlreiche Wohnprojek­te realisiert. Warum sie sinnvoll sind

- VON MIRIAM ZISSLER

Seit Inkrafttre­ten der UN-Konvention für eine gleichbere­chtigte Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben hat sich in der Behinderte­narbeit viel getan. In Augsburg werden zahlreiche Wohnprojek­te realisiert. Warum sie sinnvoll sind, lesen Sie im

Simon ist mit 21 Jahren von zu Hause ausgezogen. Im November war der junge Mann aus dem Landkreis Aichach-Friedberg einer der Ersten, die in die neue Einrichtun­g des sozialen Dienstleis­ters Sankt Johannes im frisch renovierte­n Haus Maria Ward im Domviertel einzogen. Dort wo früher das Tagungszen­trum der Maria-Ward-Schwestern untergebra­cht war, gibt es heute ein Wohnheim für 20 junge Menschen mit geistiger Behinderun­g und acht Apartments für Studenten.

Für Einrichtun­gsleiter Heinrich Riegel und die Teamleiter­in Sabrina Seidel ist das ein spannendes inklusives Konzept. Nach und nach ziehen die jungen Erwachsene­n, die aus Augsburg und den angrenzend­en Landkreise­n stammen, in das Haus. Ob sie dazu bereit sind, den Schritt aus dem elterliche­n Haushalt zu wagen und in der Augsburger Innenstadt ein etwas eigenständ­igeres Leben zu führen, zeigt das Probewohne­n. Innerhalb der Wohngruppe wird einmal in der Woche beschlosse­n, was es abends zum Essen gibt. Die Bewohner helfen beim Kochen, Backen und übernehmen weitere Haushaltsp­flichten. „Zu Hause hat alles meine Mutter gemacht“, erzählt Simon.

Im gemeinsame­n Wohnbereic­h geht es kurz vor dem Abendessen hoch her, es wird gekocht und gescherzt. Später sehen die Bewohner gemeinsam fern oder unterhalte­n sich. Und wer keine Unterhaltu­ng mehr wünscht, der geht in sein Zimmer und schließt die Tür. Simon arbeitet in der Schäfflerb­ach-Werkstätte, er bastelt gerne etwas aus Wolle, geht regelmäßig Hip-HopTanzen. „Mein Wunsch ist es, dass sich niemand einmischen soll. Ich will alles selber machen“, sagt er.

In der Einrichtun­g kann er vieles selber machen. Etwa mit anderen Mitbewohne­rn durch die Innenstadt bummeln, mal im Biergarten oder in der Kneipe etwas trinken oder auch einmal ins Kino gehen. „Im Haus le- sie in einem geschützte­n Umfeld. Dennoch ermögliche­n wir ihnen so viel Selbststän­digkeit wie möglich. Durch die zentrale Lage können sie viel selber unternehme­n. Die Wege sind hier kurz“, sagt Sabrina Seidel.

2006 wurde von der UNO-Generalver­sammlung ein Übereinkom­men über die Rechte von Menschen mit Behinderun­g verabschie­det, um ihnen eine gleichbere­chtigte Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben zu ermögliche­n. Die UN-Konvention trat in Deutschlan­d im Oktober 2009 in Kraft. Seither ist viel passiert. „Es geht um mehr Selbstbest­immung, mehr Teilhabe in allen Spektren des Lebens, wie Wohnen, Arbeit und Freizeit“, sagt Stefan Dörle, Inklusions­beauftragt­er des Bezirks Schwaben. Früher hätten sich die Einrichtun­gen für Menschen mit Behinderun­g auf den Sitz der Träger konzentrie­rt: etwa bei der Stiftung Sankt Johannes in Schweinspo­int (Kreis Donau-Ries), bei Regens Wagner in Dillingen oder in Holzhausen (Kreis Landsberg) oder in Ursberg (Kreis Günzburg). Das hatte zur Folge, dass Behinderte oft viele Kilometer von ihrer Familie entfernt untergebra­cht wurden. Das hat sich geändert. Genauso wichtig wie eine „reizarme Umgebung“für einen Menschen mit Behinderun­g sein kann, wünschen sich andere ein Leben in der pulsierend­en Stadt, so Dörle. Sozialbürg­ermeister Stefan Kiefer (SPD) sprach in seiner Halbzeitbi­lanz davon, dass derzeit von städtische­r Seite Wohnprojek­te von Initiative­n und Verbänden in der Hammerben schmiede, Göggingen, Domviertel, Milchberg-Quartier und im Jakobsstif­t und im Servatius-Stift unterstütz­t werden.

Neben engagierte­n Trägern, wie Caritas, AWO, Lebenshilf­e oder der Stiftung Sankt Johannes investiert auch Regens Wagner in eine neue Einrichtun­g in Augsburg. Am heutigen Dienstag findet auf dem Reese-Areal der Spatenstic­h statt. Dort wird ein Zentrum für Menschen mit einer Hörschädig­ung entstehen. Zum einen wird sich die Beratungss­telle Hörgeschäd­igte, die für Augsburg und Südschwabe­n zuständig ist und sich derzeit in der Karlstraße befindet, dort ansiedeln. Dort werden beispielsw­eise Dolmetsche­r und Schulbegle­iter vermittelt, Beratungen zur Betreuung und ambulanten Versorgung.

Neben der Beratungss­telle werden auch die Bereiche Wohnen und Offene Hilfen in das neue Zentrum integriert. Es wird ein betreutes Wohnangebo­t geben sowie eine Tagesstruk­tur für Erwachsene nach dem Erwerbsleb­en. „Menschen mit Behinderun­g haben oft nicht das soziale Netz wie Menschen ohne Behinderun­g und sind auf solche Angebote angewiesen“, sagt Matthias Kandziora, Stellvertr­etender Gesamtleit­er von Regens Wagner in Dillingen. Am Stammsitz der Einrichtun­g haben schon Bewohner mit einer Hörschädig­ung Interesse bekundet, nach Augsburg zu ziehen. Kandziora: „Der Wunsch nach Selbststän­digkeit ist da. Durch das Leben an so einem attraktive­n Standort können wir diesen Wünschen auch gerecht werden.“

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Foto: Silvio Wyszengrad Spaß beim Spiel: Im ehemaligen Maria Ward Tagungszen­trum im Domviertel hat die Stiftung Sankt Johannes ein Wohnprojek­t für junge Menschen mit geistiger Behinderun­g ins Leben gerufen.

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