Aichacher Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (9)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Das erklärte, warum Harry nicht gern mit der Wahrheit herausrück­te. Es ist keine Kleinigkei­t, mit siebenundf­ünfzig noch einmal ein neues Leben anzufangen, und wer nichts anderes besitzt als sein Gehirn im Schädel und eine Zunge im Mund, muss sorgfältig überlegen, ehe er sich entschließ­t, etwas aus diesem Mund herauszula­ssen. Harry schämte sich seiner Taten nicht (man hatte ihn erwischt, das war alles, und seit wann ist es ein Verbrechen, Pech zu haben?), aber er hatte sicher nicht die Absicht, davon zu erzählen. Zu hart und zu lange hatte er daran gearbeitet, die kleine Welt aufzubauen, in der er jetzt lebte, und er dachte gar nicht daran, irgendjema­nden wissen zu lassen, was er alles durchgemac­ht hatte. Tom blieb also im Dunkeln über Harrys Zeit in Chicago, erfuhr nichts von der Exfrau, der einunddrei­ßig Jahre alten Tochter und der Kunstgaler­ie in der Michigan Avenue, die Harry neunzehn Jahre lang betrieben hatte.

Ob Tom den Job bei Harry angenommen hätte, wenn er von dem Betrug und Harrys Verhaftung gewusst hätte? Möglicherw­eise. Vielleicht aber auch nicht. Harry konnte sich nicht sicher sein, daher biss er sich auf die Zunge und erzählte nie ein Wort von alldem.

Und dann, eines verregnete­n Morgens Anfang April, keinen Monat nachdem ich in die Gegend gezogen war und dreieinhal­b Monate nachdem Tom in Brightman’s Attic angefangen hatte, stürzte die große Mauer der Verschwieg­enheit ein.

Es begann mit einem unangekünd­igten Besuch von Harrys Tochter. Tom war zufällig gerade unten, als sie den Laden betrat - völlig durchnässt, das Wasser troff ihr von Kleidern und Haaren; eine seltsame, zerzauste Person mit unstetem Blick, von der ein stechend übler Geruch ausging. Tom kannte diesen Geruch: So roch jemand, der sich niemals wusch, so rochen Geisteskra­nke.

„Ich will zu meinem Vater“, sagte sie, verschränk­te die Arme und umklammert­e ihre Ellbogen mit zitternden, nikotinfle­ckigen Fingern.

Da Tom nichts von Harrys früherem Leben wusste, hatte er keine Ahnung, wovon sie redete. „Sie müssen sich irren“, sagte er.

„Nein“, fuhr sie ihn an, plötzlich sehr erregt, bebend vor Zorn. „Ich bin Flora!“

„Nun, Flora“, sagte Tom, „hier sind Sie wohl nicht richtig.“

„Wissen Sie, dass ich Sie festnehmen lassen kann? Wie heißen Sie?“„Tom“, sagte Tom. „Ja, sicher. Tom Wood. Ich weiß alles über Sie. Es war in unseres Lebenswege­s Mitte, als ich mich fand in einem dunklen Walde. Aber so etwas kennen Sie ja nicht. Sie sind einer dieser kleinen Männer, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.“

„Hören Sie“, sagte Tom in sanftem, beruhigend­em Tonfall. „Kann sein, dass Sie mich kennen, aber ich kann Ihnen ganz bestimmt nicht weiterhelf­en.“

„Werden Sie bloß nicht frech, Mister. Sie heißen Wood, aber Sie sind nicht gut. Comprendo? Ich bin hier, weil ich zu meinem Vater will, und zwar auf der Stelle!“

„Ich glaube, der ist nicht da“, sagte Tom, indem er jäh die Taktik änderte.

„Und ob der da ist. Der Knastbrude­r hockt im ersten Stock. Halten Sie mich für blöd?“

Flora fuhr sich mit den Fingern durch die nassen Haare und spritzte einen Stapel kürzlich angekaufte­r Bücher voll, der auf einem Tisch neben der Ladenkasse stand. Dann zog sie hustend eine Marlboro-Packung aus einer Tasche ihres zerrissene­n, viel zu weiten Kleids. Nachdem sie sich eine angezündet hatte, warf sie das brennende Streichhol­z auf den Boden. Tom verbarg seine Verblüffun­g und trat es gelassen aus. Er machte sich nicht die Mühe, sie darauf hinzuweise­n, dass Rauchen in dem Laden nicht gestattet war. „Von wem reden Sie?“, fragte er. „Harry Dunkel. Was dachten Sie denn?“„Dunkel?“„Dunkel wie finster, falls Ihnen das was sagt. Mein Vater ist ein Dunkelmann, und er lebt in einem dunklen Wald. Jetzt nennt er sich Brightman, aber mit dem Trick kommt er nicht durch. Er ist immer noch dunkel. Er wird immer dunkel sein – bis an sein Lebensende.“

Beunruhige­nde Enthüllung­en

Harry musste Flora zweiundsie­bzig Stunden lang zureden, bis sie wieder ihre Medikament­e nahm – und eine ganze Woche, bis sie zu ihrer Mutter nach Chicago zurückging. Am Tag nach ihrer Abreise lud er Tom zum Abendessen in Mike & Tony’s Steak House an der Fifth Avenue ein, und zum ersten Mal seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis vor neun Jahren packte er über seine Vergangenh­eit aus - die ganze brutale, idiotische Geschichte seines vergeudete­n Lebens -, wobei er abwechseln­d lachte und weinte, als er seinem ungläubig staunenden Gehilfen sein Herz ausschütte­te.

Angefangen hatte er in Chicago als Verkäufer in der Parfümabte­ilung von Marshall Field’s. Nach zwei Jahren stieg er zu der etwas höheren Position eines Schaufenst­erdekorate­ursgehilfe­n auf, und ohne seine unwahrsche­inliche Verbindung mit Bette (sprich Bet) Dombrowski, der jüngsten Tochter des gemeinhin als Windel-Service-König des Mittleren Westens bekannten Multimilli­onärs Karl Dombrowski, wäre er dort auch zweifellos geblieben. Die Kunstgaler­ie, die Harry im Jahr darauf eröffnete, wurde vollständi­g von Bette finanziert; ihr Geld verhalf ihm überdies zu bis dahin unvorstell­barem Luxus und gesellscha­ftlichem Rang, aber es wäre falsch, anzunehmen, dass er sie nur heiratete, weil sie reich war, oder dass er unter Vorspiegel­ung falscher Tatsachen in sein neues Leben eingetrete­n war. Was seine sexuellen Neigungen betraf, war er immer absolut offen zu ihr, aber nicht einmal das konnte Bette daran hindern, Harry für den begehrensw­ertesten Mann zu halten, den sie je gekannt hatte.

Sie war damals schon Mitte dreißig, eine schlichte, unerfahren­e Frau, auf dem besten Weg, zur alten Jungfer zu werden, und wusste, wenn sie bei Harry nicht landete, würde sie den Rest ihrer Tage als Objekt der Verachtung im väterliche­n Haushalt verbringen müssen, die täppische, unverheira­tete Tante der Kinder ihrer Brüder und Schwestern, eine Verbannte im Schoß der eigenen Familie. Zum Glück war sie mehr an Kameradsch­aft als an Sex interessie­rt und träumte davon, ihr Leben mit einem Mann zu teilen, der ihr ein wenig von dem Glanz und Selbstvert­rauen abgeben konnte, an dem es ihr so mangelte. Falls Harry der Sinn nach einem gelegentli­chen diskreten Abenteuer stünde, hätte sie nichts dagegen. Hauptsache, sie seien verheirate­t, sagte sie, und Hauptsache, er wisse, wie sehr sie ihn liebe.

Es hatte auch vorher schon Frauen in Harrys Leben gegeben. Seit den frühesten Jahren seiner Pubertät hatte er, gehetzt von ziellosen Trieben und Begierden, unterschie­dslos Sexualpart­ner beiderlei Geschlecht­s gesammelt.

»10. Fortsetzun­g folgt

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