Wenn die Lebensgeschichte eine Lüge ist
Ein Mann lebte Jahrzehnte mit der fiktiven Biografie eines KZ-Häftlings. Jetzt gibt es ein Buch über ihn
Es war ein Paukenschlag, als der Historiker Benito Bermejo 2005 der spanischen Öffentlichkeit Dokumente vorlegte, die keinen Zweifel daran ließen, dass Enric Marco, Präsident der Vereinigung ehemaliger spanischer KZ-Häftlinge, fast 30 Jahre eine gefälschte Biografie benutzt hatte. Dank dieser hatte sich Enric Marco größtes Ansehen in der spanischen Gesellschaft erwerben können. Kein Wunder, dass dieses Thema auch die Aufmerksamkeit des Schriftstellers Javier Cercas erregt hatte, gilt der doch nicht erst seit seinem Welterfolg mit „Die Soldaten von Salamis“als Meister der literarischen Übertragung zeitgeschichtlicher Ereignisse.
Das aktuelle Werk über den Betrüger Enric Marco ist nun bei S. Fischer unter dem Titel „Der falsche Überlebende“erschienen. Aus diesem Anlass absolvierte Javier Cercas eine kurze Lesereise durch Deutschland. Auftakt war im spanischen Cervantes-Institut in München – ehe es aus fallspezifischen Gründen dann weiterging zur KZGedenkstätte Flossenbürg.
„Ich weigerte mich mehr als sieben Jahre lang, dieses Buch zu schreiben“, so heißt es zu Beginn von Cercas’ Roman, der sich liest wie eine hoch angereicherte Mischung aus Krimi, Reportage, Literaturdiskurs und erzählendem Sachbuch. Je mehr der Leser auf den knapp 500 Seiten in das Geschehen eintaucht, umso deutlicher werden die Zusammenhänge der spanischen mit der europäischen Zeitgeschichte. Sehr rasch wird einem bei der Lektüre klar, dass Cercas nicht an einer historischen Begebenheit interessiert ist. Vielmehr erzählt er die Geschichte eines Menschen, der beinahe sein ganzes Leben eine Geschichte erzählt hat.
Als Enric Marco 2005 als Betrüger entlarvt wurde, war ganz Europa empört. Jetzt bei seiner Münchner Lesung, könnte es scheinen, macht sich Cercas zum Anwalt dieses um ein Haar perfekten Hochstaplers. Marco, so Cercas, sei ein Genie der Lüge, schmeckten die besten Lügen doch stets nach Wahrheit. Damit war der Schriftsteller beim Anfang seines Romans, beim Auslöser des Erzählens. Bei seinem letzten Buch „Anatomie des Augenblicks“habe es nicht eine ausgedachte Zutat gegeben, und so sei er, Cercas, zu der Erkenntnis gekommen: „Die Wirklichkeit bringt dich um, Rettung bringt nur Fiktion.“
So ähnlich dürfte auch Enric Marco gedacht haben, als er sich die Biografie des KZ-Häftlings 6448 aus dem deutschen KZ Flossenbürg einverleibt hatte. Dadurch war ein „Überlebender“, ein Gutmensch und Pazifist, entstanden. Als jedoch dank Bermejos Recherchen das Lügengebilde Marcos in sich zusammengefallen war, wollte die Öffentlichkeit dies nicht wirklich glauben. Cercas glaubt: Eben dieses NichtWissen-Wollen, Nicht-GlaubenWollen entspräche der Biografie Spaniens nach Franco. Der Schriftsteller kritisiert unmissverständlich den „pacto de silencio“, jenen vom demokratischen Post-Franco-Spanien ausgegebenen Schweigepakt. Dieser Missbrauch des historischen Gedächtnisses, so Cercas, habe Schelme wie Marco produziert. Ja, Marco ähnele einem Don Quijote oder, auf weiblicher Seite, einer Emma Bovary. Auch sie wollten sich mit ihrem grauen Alltag nicht abfinden. Und so erfanden und lebten sie kurzerhand ein fiktives Heldenleben. Enric Marco tat dies, damit ihn die Menschen schätzten und liebten. Und am Ende gleicht er in der Tat ein wenig jenem Ritter der traurigen Gestalt.
Dem Leser, der in München parallel zur Biografie von Marco sehr viel über jene von Javier Cercas erfährt, wird mehr und mehr bewusst, dass er bei diesem so geschickt mit Mosaikstein um Mosaikstein zusammengefügten Bild über Wahrheit und Lüge auch in seinen eigenen Spiegel blickt. Das hat Sogwirkung. Die sprachliche Qualität wie auch die zeitgeschichtlich doppelbödige Thematik bescherten dem „falschen Überlebenden“eine Reihe literarischer Preise und die Übertragung in bislang mehr als 20 Sprachen.
Schlussendlich lässt Javier Cercas aber keinen Zweifel daran, dass sich Marcos Verhalten nicht rechtfertigen lässt. Sofern wir Cercas glauben dürfen: Denn vielleicht hat er uns ja eine Geschichte aufgetischt, die zwar nach Wahrheit schmeckt, aber in Wirklichkeit keine ist. Denn, so plädierte der Schriftsteller am Ende seiner Ausführungen vehement: „Autoren dürfen lügen und erfinden, die anderen Menschen nicht.“
Javier Cercas: Der falsche Überle bende. A. d. Span. von Peter Kultzen. S. Fischer, 495 S., 24,00 €