Aichacher Nachrichten

Höhenflug

Vor 25 Jahren zog in einer Nacht ein ganzer Flughafen um. Am Abend starteten die Maschinen noch in München-Riem, am nächsten Morgen landeten sie in Erding. Warum Bayern damit Geschichte geschriebe­n hat – und man in Berlin davon nur träumen kann

- VON JAKOB STADLER UND SONJA KRELL

Wenn Andreas Marinoff nach seinem Job gefragt wird, dann könnte er einfach antworten, dass er Busfahrer ist. Doch er sagt: „Ich bin Mitarbeite­r des Flughafens München.“Und wenn der 49-Jährige das so sagt, klingt ein gewisser Stolz in seiner Stimme mit. Wenn er von „seinem“Flughafen spricht, von dem Team, das er als große Familie beschreibt, dann kommt er ins Schwärmen. „Ich sehe mich als kleines Rädchen vom großen Ganzen“, sagt Marinoff. Und er fügt noch hinzu: „Ich möchte nirgendwo anders Bus fahren.“

Als Marinoff angefangen hat am Flughafen München, lag sein Arbeitspla­tz noch 30 Kilometer weiter südlich. Es war das Jahr 1991. Helmut Kohl war Bundeskanz­ler, „Besserwess­i“wurde zum Wort des Jahres gewählt und der Flughafen war noch im Münchner Stadtteil Riem.

Vielleicht ist Marinoff dem Airport deshalb so eng verbunden, weil er erlebt hat, wie er groß geworden ist. Er hat das Ende von MünchenRie­m mitbekomme­n – und die Geburtsstu­nde im Erdinger Moos. Er war dabei, als Mitte der 90er Jahre die ersten Langstreck­enflieger von dort aus starteten, als 2003 das Terminal 2 in Betrieb genommen wurde, als 2016 das Satelliten­terminal an den Start ging. Und er wird mit dabei sein, wenn der Flughafen nun seinen 25. Geburtstag feiert.

Natürlich kennt Andreas Marinoff die Geschichte­n über die „Nacht der Nächte“, über jene Stunden vom 16. auf den 17. Mai 1992, in denen der komplette Flughafen von Riem ins Erdinger Moos Jene Nacht, die drei Jahre lang bis ins kleinste Detail geplant worden war – und die als größte und schnellste Umzugsakti­on in die Historie einging.

Da ist etwa die Geschichte über Kuno Kirchner, von dessen penibler Planung in dieser Nacht alles abhing. Der Projektlei­ter Betriebsve­rlagerung, auch „Mr. Umzug“genannt, hatte den Termin ausgesucht. Weil es die Nacht von Samstag auf Sonntag war – und ein reisearmes Wochenende zwischen Ostern und Pfingsten. Kirchner pendelte in dieser Umzugsnach­t zwischen Riem und Erding, beobachtet­e die Situation aus seinem weißen Mazda, auf dem Beifahrers­itz ein großer Kasten, an dem eines der ersten Mobiltelef­one hing.

Oder die Geschichte des damaligen Flughafen-Chefs Willi Hermsen, der München II unbedingt im Mai eröffnen wollte, „weil dann die Bäume schön grün sind“. „Der erste Eindruck ist wichtig“, erklärte der Flughafenc­hef damals. Dass dann aber die erste S-Bahn, die am Sonntagmor­gen kurz nach fünf im Bauch des neuen Flughafens ankam, überfüllt war – nur, weil die Bundesbahn nicht wie abgesproch­en Langzüge geschickt hatte –, das ließ Hermsen vor Wut fast beben.

Perfektion­isten können Schlampere­ien nicht leiden. Der Umzug von München I nach II war genau das Gegenteil – die Leistung von Spezialist­en. Anders ist es wohl auch nicht möglich, wenn 5000 Menschen damit beschäftig­t sind, das gesamte Inventar eines Flughafens zu verlagern, wenn ein Konvoi aus 700 Lastwagen, Schwertran­sportern und selbstfahr­enden Gangways über die Autobahn rollte, wenn vorher einmal die Durchfahrt­shöhe jeder Brücke nachgemess­en werden musste. Zwischenfä­lle? Pannen bei dem zehn Millionen Mark teuren Umzug? Fehlanzeig­e. Nach zehn Stunden war alles vorbei.

Hunderte von Schaulusti­gen drängten sich in dieser Nacht auf Autobahnbr­ücken und dem Aussichtsh­ügel, um das Schauspiel zu verfolgen. Andreas Marinoff hat es nicht miterlebt – aber den Tag davor und danach. Am 16. Mai arbeitete er noch bis zum Nachmittag in Riem, belud Flugzeuge für den Transport. „Da habe ich noch die letzte LTUMaschin­e rausgehen sehen“, erzählt er. Tags darauf fuhr er wieder zur Arbeit, aber ins Erdinger Moos. „Das war schon ein Wahnsinnsg­efühl“, erinnert er sich. „Im Vergleich ist das einfach ein riesiger Flughafen.“Welcher der beiden der bessere ist? Marinoff muss nicht lange überlegen. „Der Neue“, sagt er. „Der ist auf Zukunft ausgericht­et und eröffnet größere Möglichkei­ten für Bayern.“Eines aber war angenehmer zu Riemer Zeiten: „Da war alles flexibler.“Mal lud Marinoff Koffer ins Flugzeug, mal brachte er sie zum Kofferband im Flughafeng­ebäude. Heute fährt er nur noch Bus – auch wenn er nichts lieber tut.

In jener Nacht vor 25 Jahren war die Euphorie nicht überall so groß. In Riem brannten am Abend des 16. Mai Kerzen, Blumen wurden verzog.

Nur vier Ma schinen täglich landeten am Münch ner Flughafen Riem im Jahr 1949. Im Jahr des Umzugs ins Erdinger Moos, 1992, zählte man gut 192 000 Starts und Landungen mit zwölf Millionen Passagiere­n und rund 80 000 Tonnen Luftfracht und Luftpost. Die Flughä fen Berlin, Düsseldorf und München waren etwa gleich groß.

Auf dem neuen Münchner Flughafen hat sich die Zahl der Flüge in 25 Jah ren verdoppelt, die Zahl der Passagiere nahezu vervierfac­ht. Vom Drehkreuz teilt, ein Sarg aus Pappe symbolisch zu Grabe getragen. Draußen spielten die Alphornblä­ser ein sentimenta­les Lebewohl, drinnen sicherten sich die Souvenirjä­ger Erinnerung­sstücke: Schilder, auf denen „Express Check In“stand oder „Hier nur einchecken für First-Class-Gäste“. Dann der letzte planmäßige Abflug, 21.40 Uhr, mit der Lufthansa nach Hannover. Kurz vor Mitternach­t machte sich der letzte Airbus – leer – auf den Kurzflug nach Erding. Dann gingen in Riem die Lichter aus. Und die lärmgeplag­ten Anwohner ließen die Korken knallen.

Dass der Flughafen raus muss aus der Stadt, das war seit jenem Tag im Dezember 1960 klar. Damals streifte eine Maschine der amerikanis­chen Luftwaffe den Turm der Paulskirch­e und stürzte auf eine Trambahn, 52 Menschen starben. Die Idee, den stadtnahen Flughafen Riem auszubauen, war am Ende. Eine Zeit zermürbend­er Kämpfe und politische­n Streits folgte. 20 Standorte waren zu Beginn der 60er Jahre in der Diskussion. Im August 1969 entschied sich das bayerische Kabinett für das Erdinger Moos. 1975 stand das Konzept. Es gab Proteste und Prozesse, zwischen 1981 und 1985 ruhte der Bau vier Jahre lang, ehe das Bundesverw­altungsger­icht als letzte Instanz die Planung 1986 für rechtmäßig erklärte.

Und dann das. Endlich öffnete der modernste Airport Europas – und der „flinke Felix“war der Erste, der dort landete. Dabei sollten die eigens von Riem nach Frankfurt und Berlin entsandten LufthansaS­ondermasch­inen „Erding“und „Freising“am Sonntag früh mit einer Doppelland­ung den Flughafen in Betrieb nehmen. Doch Aeronoch München aus können Reisende heute 257 Städte direkt erreichen. Im ver gangenen Jahr gab es 394 000 Starts und Landungen mit 42,3 Millionen Passagiere­n und 354 000 Tonnen Luft fracht und Luftpost. Der Airport ist mittlerwei­le der sechstgröß­te in Europa.

Der Flughafen gehört dem Freistaat Bayern, dem Bund und der Landeshaup­tstadt Mün chen. Er hat im vergangene­n Jahr bei 1,4 Milliarden Euro Umsatz 150 Millio nen Euro Gewinn erwirtscha­ftet, nach Steuern. Zum Vergleich: 1992 lag der Umsatz bei 578 Millionen Mark, Lloyd-Pilot Adrian Felix Hartmann hatte auf dem Weg vom türkischen Izmir nach München kräftig Gas gegeben – und sich bereits aus dem österreich­ischen Luftraum angemeldet. Um 4.55 Uhr ließ die Flugsicher­ung den „flinken Felix“landen.

Ja, die alten Zeiten. Andreas Marinoff sitzt in seinem Bus, die Ärmel des weißen Hemdes hochgekrem­pelt. Er trägt eine dunkle Krawatte mit vielen kleinen „M“, dem Logo der Flughafen München GmbH, und eine gelbe Warnweste – Sicherheit­svorschrif­t. „So etwas gab es in Riem nicht“, sagt er. Riem, sagt Marinoff, war so wie eine Familie, „mit Mama, Papa, Kind“. Und der Airport in Erding? Ist für ihn eine Großfamili­e, „mit Cousins, Cousinen und noch ganz vielen Kindern“.

Tatsächlic­h ist der Flughafen Franz Josef Strauß eine Erfolgsges­chichte. Die Zahl der Flüge hat sich in 25 Jahren verdoppelt, die der Passagiere fast vervierfac­ht. Mittlerwei­le ist der Airport der sechstgröß­te in Europa, zehn Mal wurde er zum besten in Europa gewählt – während ganz Deutschlan­d über das Chaos am Hauptstadt­flughafen den Kopf schüttelt. Natürlich gibt es auch Probleme: den seit Jahren währenden Streit um die dritte Startbahn etwa. Oder die fehlende Anbindung ans Bahnnetz. Wer vom Hauptbahnh­of zum Flughafen will, braucht Geduld. Da werden Erinnerung­en wach an den früheren Ministerpr­äsidenten Edmund Stoiber und seine legendäre Transrapid-Rede. Oder an Manfred Pointner, einst Bürgermeis­ter von Hallbergmo­os, von dem der böse Satz stammt, der Flughafen im Erdinger Moos sei der erste, den man nur aus der Luft gut erreichen könne.

Andreas Marinoff wäre der Falsche, um über die Bahnanbind­ung zu diskutiere­n. Sein Verkehrsmi­ttel ist der Bus, sein Haupteinsa­tzort das Rollfeld. Er bringt Passagiere und Crew zu Flugzeugen, die auf Außenposit­ionen stehen – also zu den Maschinen, in die Urlauber nicht über eine Brücke vom Terminal aus einsteigen können. Seine Kunden, sagt er, haben sich in den letzten 25 Jahren verändert. Schon, weil Fliegen Anfang der 90er für viele noch etwas Besonderes war. Und es für manche mittlerwei­le nicht ungewöhnli­cher sei „als Liftfahren“.

Marinoff kennt seine Fahrgäste. Und er merkt, wenn die Passagiere nervös sind, gerade wenn sie fürchten, dass sie ihren Flug verpassen könnten. „Manche Passagiere denken, die Boarding-Time wäre auch die Abflugzeit“, sagt er. Dann tippt der Busfahrer auf einen kleinen Monitor neben dem Lenkrad. Dort kann er nachschaue­n, wann ein Flieger startet, und seine Fahrgäste beruhigen. Und er hat stets einen Spruch parat, wenn Passagiere schlecht gelaunt sind: „Hey, über den Wolken scheint die Sonne.“

Auch wenn Marinoff Urlaub hat, kommt er an den Flughafen – dann als Passagier. In die USA ist er schon geflogen, nach Kanada, Malaysia, Mauritius. Und regelmäßig zieht es ihn nach Mallorca, wo er eine Finca geerbt hat. Landet er an einem anderen Flughafen, vergleicht er den schon einmal mit dem Münchner, achtet darauf, welche Fahrzeuge im Einsatz sind, in welchem Zustand Gebäude und Rollfeld sind. Doch sein Lieblingsf­lughafen ist immer noch der im Erdinger Moos, da, wo er Bus fährt. „Ich freue mich immer, wenn ich wieder daheim bin.“

„Ich möchte nirgendwo anders Bus fahren.“Andreas Marinoff Wie stark der Flughafen München gewachsen ist

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Foto: Flughafen München In den letzten 25 Jahren ist der Münchner Flughafen in alle Richtungen gewachsen.
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Foto: Augstein, dpa Gangways und andere Gerätschaf­ten werden von Riem ins Er dinger Moos transporti­ert.
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Foto: Gregor Feindt, Flughafen München Die Nacht zum 17. Mai 1992: Zwei Kräne laden Fluggasttr­ep pen am neuen Airport ab.
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