Gott im 21. Jahrhundert
Wenn Wohlstand und Wissenschaft die Zahl der Gläubigen sinken lassen und wenn das Leben in Daten lesbar wird: Was ist der Mensch dann? Allmächtig? Oder überflüssig?
Bei Nietzsche starb Gott, bei Harari stirbt der Mensch
Das Ganze könnte sich lesen wie eine plausible Geschichte vom letzten Gericht. Sie handelt aber entgegen der Bibel vom Untergang Gottes – und vom Aufstieg des Menschen. Seiner eigenen Gottwerdung und damit seinem Untergang. Oder von seiner letztmöglichen Läuterung zur Vernunft. Je nachdem, wie der Mensch mit all den Möglichkeiten umgeht, die sich ihm heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, bieten.
Es gibt nüchterne Zahlen, die auf erste Spuren führen. Zum Beispiel können Wissenschaftler mit „bemerkenswerter Präzision“voraussagen, wie religiös die Mitglieder einer Gesellschaft sind, je nachdem, welche Daten bei der Wirtschaftskraft pro Kopf, bei der Aids-Quote, der Wasserreinheit und Arztbesuchen vorliegen. An Gott zu glauben, ist demnach eine soziologische Größe: Je besser es den Menschen geht, desto weniger tun sie es; desto mehr suchen sie selbst nach Sinn. Im Jahr 1900 lebten noch 80 Prozent der Christen weltweit in Europa und den USA, heute leben 60 Prozent aller Christen in Entwicklungsländern. Während die Menschen in Not beten, forschen die Menschen in den Wohlstandszentren an der Erfüllung der größten Träume: der technischen Herstellung des perfekten Lebens.
Und es gibt so etwas wie einen geistigen Kipppunkt in der Geschichte. Er liegt jetzt 135 Jahre zurück: das Erscheinen von Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“– und damit die Verkündung jenes „tollen Menschen“, dass wir Gott umgebracht hätten. Zumindest lässt der britische Starhistoriker Peter Watson damit „Das Zeitalter des Nichts“beginnen, das er schwungvoll beschrieben hat. Denn von da an setzte sich die Selbstermächtigung des Menschen immer weiter durch.
Heute stehen wir womöglich wieder an einem solchen Kipppunkt. Denn die Wissensgesellschaft setzt zu einem neuen Sprung an. Es ist noch nahezu ermutigend nachzuvollziehen, wie Watson das Ringen des Menschen in den vergangenen 135 Jahren um Eigenverantwortung schildert. Haben wir nicht durch diesen Schritt in den sogenannten Humanismus Ziele festgeschrieben wie jenes, die Würde des Menschen weltweit zu achten? Haben wir nicht versucht, der religiösen Entzauberung der Welt eine rationale Verwandlung zu Demokratie und Freiheit entgegenzuhalten? Aber was ist dabei herausgekommen? Mögen auch manche aktuellen Denker, die Peter Watson zitiert, noch dagegenhalten: Das einzelne Leben selbst erscheint uns „lediglich aufgrund chemischer Zufälle“bestimmt und das Dasein im Ganzen nur immer mit neuer Not gegen Katastrophen und Krisen zu verwalten. Da mögen sich manche wieder nach Gott und Glauben sehnen – der mögliche Sprung kommt aus den Laboren der führenden Technologie-Firmen.
Darüber schreibt Watsons StarKollege aus Israel, Yuval Noah Ha- rari, in seinem fulminanten Buch „Homo Deus“, was eigentlich „göttlicher Mensch“heißt, letztlich aber gerade das drohende Ende des Humanismus meint. Denn wir sind dabei, genau jene Grenzen des Menschseins zu überschreiten, die uns zuvor noch zur Vernunft hätten bringen können. Statt die Verantwortung der Menschheit im Blick auf den Einzelnen zu begründen, beginnen wir das Leben selbst zu reduzieren: „Der Humanismus glaubte, dass sich Erfahrungen in unserem Inneren vollziehen und dass wir den Sinn all dessen, was passiert, in uns finden sollten, womit wir aber zugleich dem Universum Sinn verleihen. Dataisten glauben, dass Erfahrungen wertlos sind, wenn man sie nicht mit anderen teilt – und dass wir gar keinen Sinn in uns finden müssen, ja gar nicht können. Wir müssen nur unsere Erfahrungen aufzeichnen und mit dem großen Datenstrom verknüpfen, dann werden die Algorithmen ihren Sinn erkennen und uns sagen, was wir tun sollen.“Dataisten? Das sind für Harari eben die Propheten einer neuen, heraufziehenden Religion.
Er spricht von dem, was mit dem Internetzeitalter begonnen hat, in der Forschung von der direkten Verbindung von künstlicher mit menschlicher Intelligenz aber bereits seine Fortsetzung findet. Du willst wissen, wer du bist: Dann lass deine DNS vom Sequenzer lesen. Und die Algorithmen im Netz können auch zuverlässiger errechnen, was du wirklich willst. So beginnt der Mensch, immer funktionaler auf das Leben selbst zu blicken. Und niemand weiß, wo sich die Bremse befindet – und selbst wenn sie einer fände, würde das zum Zusammenbruch unserer wachstumsorientierten Gesellschaft führen.
„Indem der Dataismus die menschliche Erfahrung mit Datenmustern gleichsetzt, bringt er unsere Quelle von Autorität und Sinn ins Wanken und kündet von einer ungeheuren Glaubensrevolution, wie wir sie seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr erlebt haben.“Das betrifft den Einzelnen wie den Staat, die Freiheit wie die Demokratie: „Menschen sind lediglich Instrumente, um das Internet aller Dinge zu schaffen, das sich letztlich auf den Planeten und das Universum ausbreiten könnte… Dieses kosmische Datenverarbeitungssystem wäre dann Gott.“Der Homo sapiens wäre nur Vorläufer und ginge als das unter, zu dem er selbst zuvor die Tiere gemacht hat: Material.
Die Gesetze des neuen Glaubens greifen laut Harari schon heute: 1. Du sollst den Datenfluss maximieren. 2. Alles sollte mit dem System verbunden werden. Was bleibt? Harari stellt drei Fragen, die wir besser heute als morgen beantworten müssten: „1. Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung? 2. Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein? 3. Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nichtbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst?“Harari glaubt: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass wir die Optimierung des Lebens mit dem Versprechen auf Göttlichkeit und Unsterblichkeit in der Spitze immer weiter treiben, „selbst wenn es uns umbringt“.
Aufstieg und Untergang, letztes Gericht über den Menschen – oder gibt es eben doch eine Läuterung? Darüber denkt der deutsche Philosoph Rüdiger Safranski in einem kleinen feinen Text „Der Wille zum Glauben“nach (veröffentlicht im Sammelband „Über Gott und die Welt“). Auch er sieht die Gefahr einer Eindimensionalisierung des Lebens „am Ende der Säkularisierung“, aber: „Was Moral betrifft: Wir befinden uns in einer Situation, in der die Einsicht wächst, dass wir für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Werteorientierung ganz gut wieder eine Religion brauchen könnten … weil der Mensch die Moral, die Entscheidung über Gut und Böse also, in einem Fundament verankert sehen möchte, das tiefer und umfassender ist als er selbst.“Dass dieses Bedürfnis radikalisiert und dann instrumentalisiert werden kann, zeigt der Zustand der Welt heute zu Genüge.
Darum fährt Safranski fort: „Die freie Religion erzieht zur Ehrfurcht vor der Unerklärlichkeit der Welt. In ihrem Lichte wird die Welt ‚größer‘, denn sie behält ihr Geheminis, und der Mensch versteht sich als Teil von ihr. Er bleibt sich selbst ungewiss. Für die unfreien Religionen schrumpft die Welt … Sie wollen das Ganze begreifen und greifen nach dem ganzen Menschen. Sie geben ihm die Geborgenheit einer Festung mit Sehschlitz und Schießscharte. Sie entspringen der Angst vor dem offenen Lebensgelände, vor dem Risiko der menschlichen Freiheit, die stets auch bedeutet: Ungeborgenheit, Alleinstehenkönnen, Ungewissheit.“
So liest sich ein Aufruf zur neuen Selbstbehauptung des Menschen – gegen den Dataismus. Der Kipppunkt hier: die Erfahrung! Erfahrung des Lebens, das reicher ist als alles Wissbare, wie in einem Spiel, in dem der Ball zunächst nicht zu sehen ist: „Fangt an zu spielen, dann werdet ihr merken, wie wirklich der Ball ist. Wenn ihr vorher wissen wollt, ob der Ball da ist, dann werdet ihr nie anfangen. Dann wird es niemals ein Spiel geben.“Und womöglich bald keinen Menschen mehr.