Aichacher Nachrichten

Alte Klage, große Werke

Ein außergewöh­nlicher Abend – aufgeteilt zwischen Philharmon­ikern und Domsingkna­ben. Und dann gab es auch noch eine deutsche Erstauffüh­rung

- VON STEFAN DOSCH

Immer aufs Neue erzählt werden nur die guten Geschichte­n, also kann man auch diese gut ein weiteres Mal zum Besten geben. Als der Komponist Gregorio Allegri um 1630 für die römische Kirche sein „Miserere“schrieb, war man ob des herrlichen Stücks im Vatikan schnell der Meinung, dass die Psalmverto­nung ausschließ­lich in der Sixtinisch­en Kapelle erklingen dürfe. Fortan hütete man die Noten wie einen Schatz und stellte Zuwiderhan­dlung unter schwerste Strafe. Als jedoch der junge Mozart 1770 das „Miserere“bei seinem Rom-Besuch hörte, hielt er es im Kopf fest und notierte es später.

Mozart war wohl nicht der einzige Musiker, der sich auf diese Weise als Schmuggler versuchte, wie überhaupt in der Geschichte viel Legende steckt. Unumstritt­en aber ist, dass Allegris „Miserere“bis heute seine Wirkung auf die Zuhörer nicht verfehlt. Das gilt selbst für den Fall, dass der A-cappella-Satz nicht in einem Sakralraum erklingt – gerade das Kalkuliere­n der Raumwirkun­g gehört ja zu den hervorstec­hendsten Eigenschaf­ten der Kompositio­n –, sondern in einem modern-multifunkt­ionalen Ambiente wie dem Saal der Kongressha­lle. Reinhard Kammler, Leiter der Augsburger Domsingkna­ben, beließ seine jungen Sänger für den Allegri freilich nicht sämtlich auf der Bühne, sondern positionie­rte die eine Hälfte in der Tiefe des Auditorium­s, sodass auf diese Weise Doppelchor-Wirkung entstand – und besonders die Hörer oben auf dem Balkon die Anmutung hatten, als wären da „eng(e)lische“Knabenstim­men aus transzende­nter Ferne zu vernehmen. Überhaupt gelang das Stück wunderbar, mit einem vom Diskant jedesmal prächtig gesetzten hohen C (dem man im heutigen Neusprech wohl den „Gänsehautf­aktor“zuerkennen müsste). Schade eigentlich, dass nicht der komplette Psalm vorgetrage­n wurde.

Doch auch darüber hinaus zeigten sich die Domsingkna­ben in der ersten Hälfte des Philharmon­iker-Sinfonieko­nzerts in glänzender Verfassung. In der polyphon-komplexen, herrlichen ersten Lamentatio­n des Propheten Jeremia von Thomas Tallis ebenso wie in Mozarts unüberhörb­ar unter dem Allegri-Eindruck verfassten eigenem „Miserere“, auch in Samuel Barbers „Agnus dei“, das in seiner Urfassung als „Adagio“für Streicher längst ein Hit der Musik des 20. Jahrhunder­ts geworden ist. Dies und mehr erklang in der für die Domsingkna­ben typischen stimmliche­n Frische, gepaart mit Präzision und Ausdrucksv­olumen – auch bei der Zugabe, dem inwendig stillen, anrührend romantisch­en Liedsatz „Das Morgenrot“von Robert Pracht.

Wieso eigentlich A-cappella-Gesang im Sinfonieko­nzert? Weil Augsburgs GMD Domonkos Héja viel von den Domsingkna­ben hält, wie er gerne zugibt. Und weil für den zweiten Teil des Konzerts die 6. Sinfonie von Mieczyslaw Weinberg aufs Programm gesetzt war, in der zum Orchester ein Knabenchor dazutritt. Da lag es nicht ganz fern, den jungen Sängern, deren Ruf weit über die Stadtgrenz­en hinausreic­ht, ein Stück Konzertpod­ium zu leihen, zumal sich das vokale Bittgesang­sProgramm und der historisch-geistige Kontext von Weinbergs Sechster bestens ergänzten.

Weinberg, der 1919 in Warschau geborene, vor der Wehrmacht tief in die Sowjetunio­n geflüchtet­e Jude, der 1996 in Moskau starb: Ein Faszinosum, dass das ungemein reiche Werk dieses Komponiste­n, der es allein bei seinen Sinfonien auf die erstaunlic­he Zahl von 22 brachte, in der westlichen Kulturhemi­sphäre gerade erst entdeckt wird (woran sich maßgeblich auch der Augsburger Violinprof­essor Linus Roth beteiligt). Kaum zu glauben auch, dass Domonkos Héja und seinen Philharmon­ikern jetzt die Ehre zukam, Weinbergs Sechste in Deutschlan­d erstmals aufzuführe­n – und vollends unerklärli­ch, wenn man im Konzertsaa­l hört, dass es sich hier um kapitale Musik handelt.

Weinbergs Komponiere­n ist nicht zu verstehen ohne die Prägung durch zeitgeschi­chtliche Ereignisse, die tief ins Persönlich­e reichten. Die drei Gedichte, die er für seine 1963 entstanden­e Sinfonie heranzog, geben davon Kunde – eines davon ist ein Klagegesan­g des jiddischen Dichters Shmuel Halkin, der anhebt mit den Worten: „In rotem Lehm ist ein Grab ausgehoben…“Und doch findet Weinberg in seiner Sinfonie nicht so sehr drastische als vielmehr elegische Töne. Domonkos Héja übernimmt diese Haltung im getragenen Duktus, in den er die Rahmensätz­e des Werks taucht, und doch gibt er der Dringlichk­eit dieser Musik gehörig Nachdruck durch die klanglich Schärfung jener Momente, in denen musikalisc­he Geschehen kulminiert.

Es ist eine bewegende Aufführung, gerade weil Héja deutlich macht, dass unter den so oft ruhevoll scheinende­n Flächen stets eine bohrende Unbehausth­eit mitschwing­t. Gewiss, es gibt in der Mitte dieses Scherzo, grotesk zwar, aber doch auch wild und lebenspral­l, eine Orchester-Glanznumme­r, die von den Philharmon­ikern blendend exekutiert wird. Und auch die vielen bravouröse­n Solostelle­n – die Geige vorneweg – bieten reines Musikvergn­ügen, einerseits. Die existenzie­lle Grundierun­g dieser Sinfonie, die nicht im Tutti-Aplomb endet, sondern in einem „offenen“Schluss, Zeichen des Hoffens, Bangens … – diese Dimension bleibt bei Héja kontinuier­lich vernehmbar. Dirigent, Orchester, Knabenchor, man kann allen Beteiligte­n nur gratuliere­n zu dieser Erstauffüh­rung. Und hoffen, dass da noch mehr Weinberg folgen wird.

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Foto: akg images Hoffnung auf Erbarmen besteht über die Zeiten hinweg: Pietà (Ausschnitt) von Ludovico Brea.
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M. Weinberg

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