Kirche darf sich nicht einmischen – sie muss
Evangelische Christen treffen sich zum Selberdenken frei nach Luther. Auch mit Obama und Merkel
BVON BERNHARD JUNGINGER eim Evangelischen Kirchentag, zu dem ab Mittwoch weit mehr als hunderttausend Gläubige in Berlin und Wittenberg erwartet werden, steht das Jenseits im Abseits. Es geht – Gott sei Dank – vor allem auch um Fragen des Hier und Jetzt. Und damit um ganz handfeste Politik. Das drückt schon die Gästeliste aus. „Stargast“ist der frühere USPräsident Barack Obama. Seine politische Bilanz mag durchwachsen sein, doch als er bei einer Trauerfeier für Terroropfer das Kirchenlied Amazing Grace anstimmte, bekam die Welt Gänsehaut. Natürlich ist Bundeskanzlerin Angela Merkel dabei, die in einem evangelischen Pfarrhaus aufwuchs. Und auch der vor nicht allzu langer Zeit noch als „SPD-Messias“gefeierte Martin Schulz wird auftreten.
Die 36. Auflage des alle zwei Jahre stattfindenden Treffens der evangelischen Kirche fällt in eine Zeit, in der die Gesellschaft darüber streitet, in welchem Maß sich Christen in die Politik einmischen sollen, ob sie das überhaupt dürfen oder ob sie es sogar müssen. Auf dem Parteitag der rechtspopulistischen AfD wurde jüngst offen zum Kirchenaustritt aufgerufen. Und auch manchem Vertreter der etablierten Parteien geht die Einmischung der Kirchen in die Tagespolitik inzwischen zu weit.
Die neuen Spannungen im Verhältnis von Politik und Kirche haben ihre Ursachen zum großen Teil in der Flüchtlingsfrage. Es sind gerade kirchlich geprägte Kreise, die Großartiges leisten, seit immer mehr Menschen aus den Krisenund Elendsregionen der Welt in Deutschland Zuflucht, Schutz oder einfach eine bessere Zukunft suchen. Waren Kirchen und Politik anfangs in WillkommenskulturEuphorie vereint, dominieren in vielen Parteien heute deutlich skeptischere Töne.
Gerade CDU und CSU, die ja das Bekenntnis zu christlichen Werten im Namen tragen, müssen sich nicht nur vereinzelt der Kritik kirchlich engagierter Mitglieder stellen. Die Wandlung von Angela Merkel von der Willkommenskanzlerin zur Abschiebekanzlerin missfällt manchen konfessionell geprägten Wählern zutiefst. Auf dem Kirchentag dürfte sie jedenfalls nicht nur Jubel Und der bayerischen CSU werfen Kirchenvertreter Unbarmherzigkeit vor, wenn sie etwa eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen fordert.
Die Politik muss eine solche Einmischung aushalten. Sie ist zuständig für das Mach- und Bezahlbare, für das große Ganze, es kommt auf Mehrheiten an. Dabei muss sie die Interessen aller relevanten Gruppen berücksichtigen, zu denen im besonderen Maß die Kirchen zählen. Die verstehen sich nicht nur als fürs Seelenheil zuständig, sondern als Interessenvertreter der Minderheiten, derer, die keine Lobby haben, sonst nicht gehört werden, der Armen, Kranken und Gescheiterten. Darum ist ihre Stimme heute wichtiger denn je.
Doch den beiden großen Konfessionen laufen die Mitglieder davon. Damit schrumpft auch ihre Beernten. deutung in der Gesellschaft. Das zwingt die Kirchen, sich noch klarer, eindeutiger zu positionieren.
Während der katholische Papst Franziskus als Fürsprecher der Armen auftritt, besinnt sich die evangelische Kirche auf Stammvater Martin Luther. Der hat vor 500 Jahren seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg genagelt – eine unerhörte Auflehnung gegen die herrschenden kirchlichen Autoritäten, damals untrennbar mit der weltlichen Macht verbunden. Zum Selberdenken wollte der Mönch die Menschen vor allem bringen. Und die Protestanten haben die Lektion gelernt, wenn sie heute auch ihren Stammvater hinterfragen, sich etwa von Luthers derb antijüdischen Aussagen distanzieren.
Neben Wittenberg ist auch Berlin für die evangelische Kirche ein hochsymbolischer Ort. In der ehemaligen DDR haben gerade engagierte Christen zum Sturz des SEDRegimes, zur Wiedervereinigung beigetragen. Unsere demokratisch verfasste Gesellschaft aber hält die Einmischung einer kritischen, hinterfragenden, auch fordernden Kirche nicht nur aus. Sie lebt davon.