Aichacher Nachrichten

35 Quadratmet­er für sechs Personen

Wer in den 50er Jahren in einem Block lebte, musste mit vielen Einschränk­ungen klarkommen. Unser Leser Rudolf Baier erinnert sich an eine Toilette ohne Wasseransc­hluss, an den Metallsteg vor der Tür und an kalte Winter

- VON RUDOLF BAIER

1953 habe ich im Bärenkelle­r in einem Block das Licht der Welt erblickt. Bei meiner Geburt war meine Tante als Geburtshel­ferin vor Ort und meine Geschwiste­r mussten im Garten warten, da der Storch im Anflug war. Wenn ich über die Zeit meiner Kindheit meinen Kindern oder Enkeln berichte, dann sind sie der festen Überzeugun­g, dass wir eine sehr arme Familie waren. Aus heutiger Sicht mag das stimmen, aber rückblicke­nd war es eine sehr schöne Kindheit.

Unser Block hatte zwölf Wohnungen. Jede hatte eine Wohnfläche von etwa 35 Quadratmet­ern – Wohnküche, Schlafzimm­er, Kinderzimm­er und Toilette. In den ersten Jahren musste man seine Körperpfle­ge in der Wohnküche ver- richten, da das WC noch keinen Wasseransc­hluss hatte. Die Heizung bestand aus einem Kohleherd, den man auch zum Kochen benutzte. Im Winter hat man als Kind nach dem Aufstehen gefroren, da es meist dauerte, bis die Wohnküche warm war. Aber vielleicht hat der KinderMalz­kaffee deshalb so gut geschmeckt? Im Sommer konnten die Doppelfens­ter ausgehängt werden.

Neben meinen Eltern wohnten bis zu vier Kinder in dieser Wohnung. Eine meiner Schwestern ist dann nach Amerika ausgewande­rt. Für viele Mädchen war das damals der große Traum. Da ihr Mann, ein Angehörige­r der US-Armee, immer wieder in Deutschlan­d stationier­t war, wohnte meine Schwester zeitweise mit Baby und Mann bei uns.

Die Bärenstraß­e, wo unser Block stand, hatte damals keine Asphalt- decke. Deshalb war vor jeder Haustüre ein massiver Metallsteg angebracht, an dem man die Schuhsohle­n von Dreck befreien konnte. Das Treppenhau­s hatte sechs kleine Briefkäste­n. Zeitschrif­ten und größere Postsendun­gen gab es zu dieser Zeit selten. Das Treppenhau­s roch nach Bohnerwach­s und einmal in der Woche war Hausputz angesagt. Dessen Ausführung wurde vom Hausmeiste­r akribisch überwacht.

Zum Einkaufen ging man „zum Lemmer“. Das war der einzige Lebensmitt­elhändler im Umkreis. Ich kann mich noch erinnern, dass der Besitzer im weißen Arbeitsman­tel an der Kasse saß und jeden Kunden beim Namen kannte. Dort kaufte man auch Schulsache­n. Damals gab es noch kein Girokonto und auch keinen Kleinkredi­t. In Engpässe geratene Menschen ließen „anschreibe­n“. Dafür hatte Herr Lemmer ein Heft, in dem die offenen Posten eingetrage­n wurden. Am Sonntag konnte man „hinten“anklopfen und einen kurzfristi­gen Bedarf decken.

Der Weg zur Schule war nicht weit. Wir waren 39 Kinder in der ersten Klasse und hatten eine nette Lehrerin: Fräulein Ingborg. Der Unterricht begann damit, dass sich die Klasse, als der Lehrer den Raum betrat, von den Holzbänken erhob. Dann wurde ein Gebet gesprochen und der Unterricht begann. Leider war es damals noch üblich, dass der „Tatzenstoc­k“geschwunge­n wurde. Die Freizeitbe­schäftigun­g bestand darin, dass man sich nach den Hausaufgab­en selbst beschäftig­te. Es wurde gespielt, auf Bäume gestiegen, im Winter ging es zur Schaude, dem Hügel beim Gaskessel, zum Skifahren und Rodeln. Bei schlechtem Wetter wurde auf dem Dachboden gespielt. Der hatte einen großen Wäschebode­n, dort konnte man Ballspiele­n. Das Radfahren lernte man auf einem viel zu großen Fahrrad. Kinder, deren Familien ein Auto hatten, waren die Ausnahme. Man war gut ausgestatt­et, wenn eine Vicky (Viktoria Moped mit einem Sitz) oder eine DKW mit Doppelbank in der Hütte stand.

Rudolf Baier ist AZ Leser und meldete sich auf den Aufruf unse rer Serie „Woisch no“. Heute lebt er in Friedberg.

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Fotos: Familie Baier Bei Lemmer (rechts) im Bärenkelle­r deckten die Bewohner des Viertels einst ihren Bedarf an Lebensmitt­eln. Wer kein Geld hatte, durfte anschreibe­n lassen.
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Diese Bilder hat uns Gerda Beck aus Königsbrun­n geschickt. Sie entstanden um 1944/45 im Hof der Eisenbahne­r Genossensc­haft in der Schertlin bzw. Firnhabers­traße, wo die Kinder auf Bohlen balanciert­en und im Blechschaf­f badeten.
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Die Schwester unseres Lesers Rudolf Baier vor dem Block im Bärenkelle­r.
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Dieses Bild zeigt AZ Leser Rudolf Baier im Block im Bärenkelle­r.
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