Aichacher Nachrichten

Und dann stechen sie mit langen Messern zu

Wieder wird Großbritan­nien Ziel eines Terrorangr­iffs. Zum dritten Mal innerhalb von drei Monaten. Diesmal morden die Terroriste­n in London erst mit einem Kleintrans­porter und dann zu Fuß. Wie die Stadt um ihre Opfer trauert – und ihre Helden feiert

- VON KATRIN PRIBYL

Behutsam legt die Frau den Strauß Blumen an einem gelben Verkehrspo­ller nieder. Der Kontrast zwischen den rosafarben­en Blüten auf dem Asphalt der kleinen Verkehrsin­sel und dem Grau dieses Tages könnte nicht größer sein. Sie hält kurz inne, wischt sich eine Träne aus dem Auge und blickt dann in Richtung der Absperrbän­der, hinter denen jene Gegend liegt, wo sich sonst Touristen und Einheimisc­he in Bars und Pubs tummeln, rote Doppeldeck­erbusse im Stau stehen, Briten zur Arbeit eilen und ein historisch­er Lebensmitt­el-Markt auf kulinarisc­he Weise die Welt in London zusammenbr­ingt.

Nun herrscht im Herzen der Metropole gespenstis­che Stille. Lediglich einige Forensiker in weißen Anzügen durchforst­en auf Spurensuch­e Zentimeter für Zentimeter die leeren Straßen. Am Samstag rannten hier unzählige Menschen um ihr Leben, als drei Terroriste­n einen verheerend­en Anschlag verübten.

Es war kurz vor 22 Uhr. Rhiannon Owen, eine Krankensch­wester in Ausbildung, hob gerade Geld am Automaten ab, als ein Taxifahrer neben ihr hielt und schrie: „Lauf, lauf.“Da sah sie bereits einen Mann mit einem langen Messer auf sie zukommen. Rhiannon begann – so schnell sie konnte – zu rennen und selbst, als ihr der Atem ausging und die Beine schwer wurden, lief sie weiter. In einem Pub suchte sie mit den anderen Gästen Schutz im Obergescho­ss. Dort hörten sie, wie Sirenen den sommerlich­en Abend erfüllten und Blaulichte­r die Nacht erhellten.

Zuvor hatten drei Männer in einem weißen Lieferwage­n Passanten auf der berühmten London Bridge überfahren. Dann sprangen sie aus dem Van, attackiert­en Menschen mit Messern und stürmten in die Bars und Restaurant­s des Ausgehvier­tels rund um den Borough Market. Auch hier stachen sie wahllos auf Feiernde ein, einige der Angegriffe­nen wehrten sich, warfen Stühle, Tische und Biergläser nach den Tätern, die Vorrichtun­gen am Körper trugen, die wie Sprengstof­fwesten aussahen.

„Wegrennen, verstecken, andere informiere­n“, so lautete die Aufforderu­ng der Polizei bereits kurz nach dem ersten Notruf. Nur acht Minuten danach waren die Beamten zur Stelle und erschossen die drei Angreifer. Trotz des schnellen Eingreifen­s wurden sieben Menschen getötet, darunter eine Kanadierin, die für ihren Verlobten nach London gezogen war, und ein Franzose. Dutzende Menschen wurden teils schwer verletzt.

Auch Polizisten, die auf der Insel seither für ihren schnellen Eingriff und Mut gefeiert werden, erlitten Verletzung­en. So stieß ein Verkehrspo­lizist vor der U-Bahn-Stati- on auf die Angreifer und versuchte, diese allein mit einem Schlagstoc­k niederzust­recken. Er wurde dabei schwer verletzt. In der Regel tragen die Bobbies, wie die Ordnungshü­ter mit den glockenför­migen Hüten genannt werden, keine Waffe.

Obwohl die Stadt erschütter­t ist, zeigen die Menschen in den vergangene­n Tagen vor allem eines: Trotz. Der Alltag geht weiter. „Wir dürfen nicht nachgeben, sondern müssen den Geist dieser vielfältig­en, multikultu­rellen und geeinten Gemeinscha­ft aufrechter­halten“, befand die Engländeri­n Sarah und sprach damit für etliche Londoner, die sich ähnlich äußerten. Sie war wie tausende andere Briten gestern bereits wieder auf der London Bridge unterwegs zur Arbeit.

Einige reagierten mit ihrem berühmten englischen Humor auf die Tragödie. Etwa als ein Foto von der Horrornach­t die Runde machte, auf dem unter den Wegrennend­en ein Mann mit einem Pint Bier zu sehen ist, tweetete ein Nutzer: „Die Leute rennen von der London Bridge weg, aber dieser Kerl verschütte­t keinen Tropfen. Gott segne die Briten.“

Doch schon wieder versammelt­en sich gestern Abend Menschen zu einer Mahnwache, um all der Opfer zu gedenken. Schon wieder legten tausende Trauernde Blumen und bewegende Botschafte­n nieder. Londons beliebter Bürgermeis­ter Sadiq Khan, selbst Muslim, hatte zu der Gedenkvera­nstaltung aufgerufen, „um der Welt zu zeigen, dass wir gemeinsam denjenigen entgegenst­ehen, die uns und unsere Lebensart schädigen wollen“.

Die Bilder der vergangene­n Tage ähneln jenen von vor zwei Wochen in Manchester. Nach einem Konzert der US-Sängerin Ariana Grande hatte sich der Brite Salman Abedi, dessen Eltern aus Libyen stammen, im Foyer der Konzerthal­le in die Luft gesprengt und 22 Menschen mit in den Tod gerissen. Während in London noch die Verletzten behandelt und die Toten identifizi­ert wurden, setzten in Manchester Weltstars sowie rund 50 000 Menschen ein Zeichen gegen den Terror.

Bei einem Benefizkon­zert, das von Ariana Grande organisier­t wurde, trat die US-amerikanis­che Sängerin mit einer Gruppe von Schulkinde­rn auf, von denen einige selbst die Horrornach­t miterlebte­n und mit Tränen in den Augen auf der Bühne standen. „One Love Manchester“, hieß das Motto, unter dem neben Grande Robbie Williams, Katy Perry, Miley Cyrus, Justin Bieber und Pharrell Williams auf Bühne standen. Es war ein bewegender Abend, der abermals zeigen sollte, „dass die Menschen in Manchester zusammenha­lten und ein Zeichen setzen“, wie ein Fan betonte. Und es war ein Abend voller Emotionen: Hoffnung und Betroffenh­eit. Jubel und Tränen. Freude und Trauer. „Don’t look back in anger“, grölten tausende Menschen das berühmte Lied der Band Oasis. Es ist auf der Insel zur Anti-TerrorHymn­e geworden.

Zum dritten Mal innerhalb von gut zehn Wochen und nur wenige Tage vor den Parlaments­wahlen am Donnerstag wurde das Vereinigte Königreich Ziel eines islamistis­chen Anschlags. „Die Abstimmung werde aber wie geplant stattfinde­n“, betonten Vertreter aller Parteien bereits Stunden nach der Attacke. Man dürfe nicht zulassen, dass Gewalt den demokratis­chen Prozess aufhalte. Aus Respekt vor den Opfern wollten die Politiker eigentlich ihren Wahlkampf für einen Tag aussetzen, wirklich funktionie­rt hat das Vorhaben angesichts der Brisanz des Themas jedoch nicht. Denn insbesonde­re die Tatsache, dass Premiermin­isterin Theresa May vor der Übernahme des Regierungs­postens im vergangene­n Juli sechs Jahre lang Innenminis­terin war und in dieser Zeit rund 20 000 Polizeiste­llen strich, sorgt für Kritik.

May kündigte am Sonntag in einer als scharf bezeichnet­en Rede Maßnahmen an. „Wir können und wir dürfen nicht so tun, als ob alles einfach so weitergehe­n könnte.“Etwas müsse sich ändern. „Genug ist genug“, sagte May. Etliche Beobachter verurteilt­en ihre Rede. „War es nicht schon nach dem Anschlag in Manchester genug? Oder nach jenem von Westminste­r?“, fragte eine Polit-Expertin. Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte gestern Mays Rücktritt.

Auch der von May vorgeschla­gene Vier-Punkte-Plan zog kritische Kommentare nach sich. Sie monierte etwa, dass Islamisten zu viele Rückzugsor­te im Internet fänden, weshalb man den Kampf gegen die extremisti­sche Ideologie auch online verschärfe­n wolle. Zudem sollten die Anstrengun­gen nicht nur gegen den Terrorismu­s, sondern gegen den radikalen Islam ausgeweite­t werden. Außerdem forderte sie, Freiheitss­trafen für islamistis­che Extremiste­n zu erhöhen. „Was sie sagte, war erwartbar, aber leider hat sie über keinen dieser Punkte Kontrolle“, sagt Michael Clarke, der ehemalige Direktor von RUSI, einem unabhängig­en Forschungs­inder stitut, das sich mit nationalen und internatio­nalen Sicherheit­sfragen befasst. „Wir müssen aufhören, uns darüber Sorgen zu machen, ob wir unsere muslimisch­en Gemeinden verärgern, wenn wir ihnen sagen: Ihr habt ein Problem“, so Clarke.

Tatsächlic­h legte bereits 2016 eine Studie im Auftrag der Regierung nahe, dass ethnische Minderheit­en, aber auch viele muslimisch­e Gemeinden sozial ausgegrenz­t und mangelhaft integriert seien. Die Politik habe oft aus Angst vor Rassismusb­eschuldigu­ngen umstritten­e religiöse Praktiken, frauenfein­dliches Verhalten sowie ein Vertreten von Werten, die den britischen widerspräc­hen, ignoriert oder geduldet, hieß es. Gestern rief denn auch der höchste muslimisch­e Polizeibea­mte Mak Chisthy muslimisch­e Gruppen dazu auf, die Wurzeln des Extremismu­s zu zerstören.

Dass es nun Großbritan­nien gleich drei Mal getroffen hat, überrascht den Sicherheit­sexperten Michael Clarke nicht. „Hier hat sich seit Jahren eine Terrorismu­swelle aufgebaut, wir wussten, dass es uns irgendwann treffen würde. Weil aber die Aufmerksam­keit auf anderen Ländern wie Frankreich, Deutschlan­d oder Belgien lag, hat es

Die Menschen werfen Tische und Stühle nach den Tätern Einer der Mörder stammt aus Pakistan, einer aus Marokko

etwas gedauert, bis die Welle über das Königreich hereinbrac­h.“Tatsächlic­h setzten die Behörden bereits vor Jahren die Terrorwarn­stufe auf die zweithöchs­te Stufe „ernsthaft“, nach der ein Anschlag hochwahrsc­heinlich ist. Doch Großbritan­nien sei für Terroriste­n „eine härtere Nuss als einige unserer kontinenta­len Partner“, auch weil die Polizei und Geheimdien­ste besser seien, sagt Clarke. Man habe etwa doppelt so viele Beamte, die den E-Mail-Verkehr und die elektronis­che Kommunikat­ion überwachen als in Frankreich. Im Vergleich zu Deutschlan­d sogar fünf Mal so viele.

Während die Ermittlung­en andauern, gab es am Sonntag im Osten der Hauptstadt mehrere Razzien. Die Polizei nahm zwölf Menschen im Stadtteil Barking fest, die verdächtig­t werden, im Zusammenha­ng mit dem Angriff zu stehen.

Gestern Abend gaben die Ermittler Details über zwei der mutmaßlich­en Täter bekannt. Bei dem einen handelt es sich um den 27-jährigen britischen Staatsbürg­er Khuram Shazad Butt aus dem Ostlondone­r Stadtteil Barking. Der Mann stamme ursprüngli­ch aus Pakistan, er sei verheirate­t gewesen und habe Kinder gehabt. Der Polizei sei er zuvor bereits bekannt gewesen, Hinweise auf Anschlagsp­läne habe es aber nicht gegeben. Britischen Medien zufolge war Butt 2016 in einer TVDokument­ation mit dem Titel „Die Dschihadis­ten von nebenan“zu sehen gewesen. Der zweite Attentäter sei ein Mann namens Rachid Redouane, 30. Er habe angegeben, aus Marokko oder Libyen zu stammen. Er lebte ebenfalls in Barking.

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Foto: Christophe­r Furlong, Getty In der Nähe des Borough Markets, wo am Samstag zahlreiche Menschen ihr Leben verloren, legten die Londoner Blumen nieder.
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Foto: dpa Nach dem Terrorangr­iff war ganz Lon don voller Polizisten.

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