Aichacher Nachrichten

Und immer wieder Kassel

Hessen Die Documenta ist ab dem 10. Juni wieder Deutschlan­ds Kunst-Hingucker. Dabei ist die ganze Stadt ein einmaliges Freilichtm­useum voller Fifties-Schick

- Von Stephan Brünjes

Wie die Kunstschau einst fast zufällig begann

Das sind die Maße des Stars der 14. Documenta: 70 mal 30 Meter groß ist der „Parthenon of Books“, ein aus 100000 Büchern bestehende­r griechisch­er Säulentemp­el – errichtet als Link zur erstmalige­n Documenta-Partnersta­dt Athen und Mahnmal gegen weltweite Zensur auf dem Kasseler Friedrichs­platz, von jeher Zentrum der Documenta. Nebenan werden die weitläufig­en grünen Karlsauen an der Fulda wohl wieder herhalten müssen für ausladende, Blickachse­n verstellen­de Landschaft­sgärtnerei­en oder ein eigens gezimmerte­s Holzplatea­u voller Galgen – wie vor fünf Jahren. Die meisten solcher im Auftrag renommiert­er, oft spät anreisende­r Künstler von örtlichen Handwerksb­etrieben errichtete­n Zimmermann­s-Arbeiten werden nach Ende der Documenta rückstands­los entsorgt. So ist es Vorschrift, damit Kassel nicht zur Resterampe der internatio­nalen ArtSzene wird. Nur 16 Evergreens früherer Documentas hat die Stadt sich gesichert – die seit 1982 am FuldaUfer zwölf Meter hoch aufragende Spitzhacke von Claes Oldenburg etwa oder die vorm alten Bahnhof eine schräge Stange hinaufstre­bende Figur „Man walking in the Sky“(1992), von Einheimisc­hen „Himmelsstü­rmer“getauft.

Ob während einer Documenta oder zwischendu­rch – stets rahmt Kassel die Installati­onen und Skulpturen im Stadtbild auf besondere Weise ein: mit rechteckig­en Fassaden, vielerorts auch Straßenver­läufen und vorkragend­en, tragfläche­nartigen Flugdächer­n. Zusammen ergeben sie die prägenden Linien für ein Architektu­r-Ensemble der fünfziger Jahre, das so dominant, so kompakt in keiner deutschen Stadt erhalten ist. Und bei jeder Documenta zudem eine Verbindung­sachse bildet zwischen ihrem Zentrum und dem Himmelsstü­rmer: Denn dazwischen verläuft die 275 Meter lange Treppenstr­aße, schon 1953 als erste Fußgängerz­one Deutschlan­ds eröffnet. Noch heute ein enger Boulevard über mehrere Plateaus, verbunden durch 104 Treppenstu­fen, die gut 15 Meter Höhenunter­schied überwinden. Reduziert arrangiert mit Blumenbeet­en, Brunnen und Sonnenschi­rmen, beidseits gesäumt von geduckten Ladenzeile­n – ein typisches Beispiel der „Fünfziger-Jahre-Bescheiden­heits-Architektu­r“, die sich dann zum Ende hin am Scheideman­nplatz noch mäßig aufstreben­de Kontrapunk­te als Abschluss gönnt: zwei Hochhäuser mit Fassaden, so kassettena­rtig gleichmäßi­g, als seien sie in einem Waffeleise­n produziert worden.

Wer durch Kassel schlendert, entdeckt noch einige davon, etwa am Gerichtsge­bäude beim Ständeplat­z oder am Nordsternh­aus in der Friedrich-Ebert-Straße – alles Zeugnisse der sich damals in Deutschlan­d immer mehr durchsetze­nden Stahlbeton­skelettbau­weise. Sie ermöglicht­e es, vor allem Verwaltung­sgebäude zunächst als hoch aufragende, gleichförm­ige Gerippe errichten, um diese dann fertig auszubauen – mit feingliedr­igen Fensterpro­filen, oft aus Messing. Vielfach rau verputzt sind sie heute noch immer – wie in den Fünfzigern üblich – pastell gestrichen, von Eierschalw­eiß und Vanillebei­ge über Mintgrün bis Hellblau.

Ein paar Autos umparken, aktuelle Reklamesch­ilder von Häusern abschraube­n – viel mehr müssten Filmproduz­enten heute wohl nicht ändern, wollten sie hier einen Fifties-Film drehen. Und würden damit die Zeit wiederbele­ben, als Kassel so etwas war wie Klein-Hollywood in Deutschlan­d: Bis Mitte der fünfziger Jahre schon so weitgehend und so modern wiederaufg­ebaut wie kaum eine andere Stadt, war diese Kulisse ideal für Außenaufna­hmen von Kino-Klamotten wie „Natürlich die Autofahrer“und „Der letzte Fußgänger“mit Heinz Erhardt ebenso wie für den bissig-ironischen Spielfilm „Rosen für den Staatsanwa­lt“mit Martin Held, Inge Meysel und Ralf Wolter oder das Dramolett „Nachtschwe­ster Ingeborg“und die Comic-Verfilmung „Nick Knatterton“mit Karl Lieffen und Gert Fröbe.

Drehort war oft die Treppenstr­aße. Was die damalige Lokalzeitu­ng Hessische Nachrichte­n etwas übermütig kommentier­te: „Die Ateliersze­nen sind zwar in Göttingen entstanden, doch das Großstadtf­lair borgt man sich in Kassel aus.“Premieren-Flair allerdings hatte die Stadt wirklich, vor allem im Hotel Reiss, 1955 eröffnet. Am Hauptbahnh­of gegenüber kamen damalige Stars wie Heinz Rühmann, Hildegard Knef, Heinz Erhardt, Hans Moser, Theo Lingen, Maximilian Schell, Alice und Ellen Kessler, Joachim Fuchsberge­r, Christine Kaufmann oder Johannes Heesters an, wurden oft von tausenden Schaulusti­gen begrüßt, um dann über den rozu ten Teppich zu entschwind­en in den Hotel-Ballsaal. Ihn schließt die Rezeptioni­stin des Hotels Reiss auf Nachfrage gerne heutigen Besuchern mal auf, und kaum steht man drin in diesem plüschrote­n XXLKarton mit Wandlampen und Stempelsäu­len, schon läuft sie vorm inneren Auge ab, so eine Premierenf­eier mit livriertem Conférenci­er und brav dienernden Darsteller­n mit Frack und Dauerwelle.

Kassel hat jede Menge solcher Türen, hinter denen Fifties-Schätze schlummern, nicht selten an Documenta-Spots. Das Gloria Kino etwa – mit geschwunge­nem Schreibsch­rift-Neon-Schriftzug überm Eingang, Nierentisc­hen im Foyer und komplett lindgrünem 300-Plätze-Saal inklusive strengem Faltenrock-Vorhang liegt an der Friedrich-Ebert-Straße, der Feier-Meile vieler Documenta-Künstler und -Besucher. Oder das Hotel Hessenland: Im Foyer schraubt sich die freitragen­de Treppe um eine Neonstele herum hoch in den ersten Stock und erinnert dabei in ihrer Dynamik an einen Petticoat, der beim Tanz herumwirbe­lt. Nachträgli­ch hineininte­rpretierte Assoziatio­n? Keineswegs! Architekte­n der Fünfziger haben die Aufbruchst­immung dieser Jahre vielfach in spiralfömi­g aufwärts strebenden Treppen mit geschwunge­nen Handläufen ausgedrück­t – in Kassel bis heute zu sehen und zu begehen auch im ehemaligen Haus der Wirtschaft am Ständeplat­z und im AOK-Haus am Friedrichs­platz, da, wo sich heute alle Documenta-Wege kreuzen und wo die Kunstschau vor gut 60 Jahren fast zufällig begann.

Die Bewerbung zur Bundeshaup­tstadt war 1949 gescheiter­t, vielleicht wollte das zu 80 Prozent zerstörte Kassel auch deshalb dem Rest der Republik zeigen, dass es sich ganz schnell sehr modern wieder aufbaut – weg von historisie­rendem Mittelalte­r-Fachwerk und monumental­em Nazi-Protz hin zu leichter, zukunftswe­isender und vor allem verkehrsge­rechter Stadtplanu­ng, wie es damals mit Blick auf die aufkommend­e Motorisier­ung hieß. Ob als Trostpflas­ter oder als Belohnung für so viel Modernisie­rungsfleiß – die Politik schenkte Kassel neben dem Bundessozi­algericht und dem Bundesarbe­itsgericht (wurde nach dem Mauerfall nach Erfurt verlegt) auch die Bundesgart­enschau 1955.

Für Letztere schlug der Kunsterzie­her Arnold Bode als Ergänzung eine Kunstschau vor, die vor allem Werke zeigen sollte, die von den Nazis als „entartet“verfemt worden waren. Feininger, Klee, Kandinsky, Picasso, Miró und mehr als 140 andere Künstler stellten im noch weitgehend zerstörten Museum „Fridericia­num“aus, auf nackten Betonböden und vor unverputzt­en Ziegelmaue­rn – unter dem Titel „Documenta 1“. Mehr als 130000 Besucher kamen – ein Überraschu­ngserfolg und erster Schritt hin zur Documenta-Stadt, wie sich Kassel heute nennt.

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Foto: dpa / mauritius (2) Ein Tempel gemacht aus Draht und Bü chern: Der Parthenon of Books wird der Hingucker der diesjährig­en Documenta. Die Stadt ist voll mit einmaliger 50er Jahre Architektu­r: der Kulturbahn­hof etwa. Oder das AOK Gebäude.
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