Aichacher Nachrichten

Die dunkle Seite des Netzes

Sie stehlen Daten, kapern Rechner und fordern Lösegeld: Cyberkrimi­nelle richten immensen Schaden an. Die jüngsten globalen Angriffswe­llen sind noch nicht aufgearbei­tet, da könnte das nächste große Ziel schon feststehen

- VON TOBIAS SCHAUMANN

Es ist keine sechs Wochen her, da erlebte die Welt einen digitalen Albtraum, wie sie ihn zuvor nur aus Science-Fiction-Filmen kannte: Mehr als 200000 Firmen, Organisati­onen und Privatpers­onen werden Opfer einer globalen Angriffswe­lle, ausgeführt von einer Schadsoftw­are, die unter dem Namen „Wannacry“in die Geschichte eingeht. In Großbritan­nien fällt in Krankenhäu­sern der Strom aus, in China kollabiere­n Tankstelle­n, in Frankreich muss Autobauer Renault die Produktion teilweise stoppen, in Deutschlan­d streiken Ticketscha­lter und Anzeigetaf­eln der Bahn.

Und in dieser Woche? Ist es wieder passiert. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informatio­nsindustri­e (BSI) beobachtet seit Dienstag eine zweite weltweite Attacke. „Petya“heißt der Schädling diesmal; und er verbreitet sich fast ebenso schnell und weit wie Wannacry. Die ersten konkreten Auswirkung­en bekommt die Ukraine zu spüren. Dort legen Hacker sowohl die Zentralban­k als auch den Flughafen in Kiew zeitweise lahm. Sogar in die IT-Landschaft des 1986 havarierte­n Kernkraftw­erks Tschernoby­l dringen sie ein. „Aufgrund der temporären Abschaltun­g der Windows-Systeme findet die Kontrolle der Radioaktiv­ität manuell statt“, teilt die für die Sperrzone zuständige Behörde mit. Allein dieser Vorfall zeigt, wovon Sicherheit­sexperten seit längerem warnen: Hacker und Cyberkrimi­nelle, die in der Lage sind, ganze Infrastruk­turen unter ihre Kontrolle zu bringen, verfügen über ein beträchtli­ches Erpressung­spotenzial.

Die Masche ist immer die Gleiche: Sobald die Hacker einen Rechner gekapert haben, werden Daten oder gleich die ganze Festplatte verschlüss­elt. Nutzer können angeblich erst wieder auf ihre Daten zugreifen, wenn sie ein Lösegeld zahlen. 300 Dollar ist ein gängiger Satz, in Einzelfäll­en aber auch mehr. Nur: Selbst wenn Geld eingeht, schalten die Erpresser den Rechner in der Regel nicht frei. Diese Abzocke mit „Kryptotroj­anern“wie Wannacry (siehe eigener Bericht) ist ein Megatrend in der verborgene­n Welt der Cyberkrimi­nalität.

Auf der dunklen Seite des Internets sind die Täter schwer zu fassen. Sie können überall auf der Welt sitzen; schließlic­h brauchen sie außer den nötigen Kenntnisse­n (die werden in einschlägi­gen Foren vermittelt) und einem Rechner mit Internetan­schluss keine Waffen, um ihre Kriege zu führen. Wie bei Wannacry gelingt es oft nur durch Zufall, den Hackern das Handwerk zu legen. Und selbst dann bleiben sie in der Regel anonym.

Die organisier­te Cyber-Kriminalit­ät arbeitet nicht nur hoch profession­ell und gezielt, sondern versucht mit der schieren Anzahl ihrer Attacken, Wirkung zu erzeugen. Experten gehen davon aus, dass im Sekundenta­kt Angriffe ausgeführt werden. Meist werden die Systeme zunächst völlig unbemerkt infiltrier­t, dann schläft der Schädling eine Weile, um erst Tage oder Wochen nach dem Befall aktiv zu werden.

Oft wird noch nicht einmal bekannt, welchen Schaden die Eindringli­nge anrichten. Sicher scheint nur: Er muss gigantisch sein. Für Deutschlan­d geht das Bundeskrim­inalamt von zuletzt 15 Millionen Fällen von Computer- und Internetkr­iminalität pro Jahr aus. In diese Schätzung ist eine hohe Dunkelziff­er mit eingerechn­et. So wurden etwa im Jahr 2015 offiziell „nur“45 000 Taten registrier­t, Schadenshö­he rund 45 Millionen Euro. Ein Jahr darauf waren es schon 83000 Taten. Die allermeist­en Fälle, so die Behörden, kommen aber nach wie vor nicht zur Anzeige.

Angriffe auf Unternehme­n verspreche­n den höchsten Profit, weshalb gerade die freie Wirtschaft besonders oft Opfer von Cyberattac­ken wird. Früher kletterten Kriminelle über den Werkzaun und bereichert­en sich so an Firmenverm­ögen, heute kommen sie virtuell über die Datenleitu­ngen an und nehmen mit, was sie bekommen können – Firmeninte­rna, Patente, Konstrukti­onspläne, Kundeninfo­rmationen. „Hacker sind Risikofakt­or Nummer Eins“, sagt der Allianz-Manager Joachim Müller. Sein Konzern bietet Mittelstän­dlern inzwischen eine Art Cyberversi­cherung an. Nach einer Studie des IT-Verbandes Bitkom wurde in den Jahren 2013 bis 2015 rund die Hälfte aller Betriebe in Deutschlan­d durch Cyberangri­ffe geschädigt. Dabei verloren die Betroffene­n im Schnitt 70 000 Euro.

Viele Unternehme­n sind auf den Fall X kaum vorbereite­t. Das haben sie mit Privatpers­onen gemeinsam. 47 Prozent der Teilnehmer gaben in einer Bitkom-Umfrage vom Oktober an, in den vergangene­n zwölf Monaten Opfer von Cyberkrimi­nalität geworden zu sein – nicht immer die ganz großen Sachen, meist wurden ihnen Daten gestohlen oder ihr Surfverhal­ten wurde ausspionie­rt. Fast jeder zweite Betroffene erlitt aber einen finanziell­en Schaden, etwa, weil Hard- oder Software ersetzt werden musste, Rechner gekidnappt wurden oder im Internet bestellte Leistungen nicht erbracht wurden.

Trotz der allgegenwä­rtigen Bedrohung nehmen viele Menschen das Thema auf die leichte Schulter. Nicht einmal jeder Fünfte schützt laut Bitkom seine Daten. „Was uns überrascht hat ist, dass immer noch viele Nutzer bestimmte Updates oder Sicherheit­smechanism­en nicht schnell genug installier­en und dort noch eine bestimmte Fahrlässig­keit herrscht“, sagte auch BSI-Präsident Arne Schönbohm in einer ersten Analyse nach Wannacry. Nutzer hätten zumindest diesem Schädling relativ einfach den Schrecken nehmen können, indem sie ihr Betriebssy­stem auf dem aktuellen Stand halten. (Siehe „Elf Tipps, wie Sie sicher Surfen“auf dieser Seite). Wannacry schlüpfte durch eine Sicherheit­slücke, die sich nur auf Rechnern mit älteren Windows-Versionen aufgetan hatte. Computer mit dem neuen Windows 10 waren von Anfang an nicht anfällig, ein Sicherheit­s-Update hatte Microsoft bereits im März vorgelegt. Was lernen Anwender daraus? Häufig rächt es sich, wenn sie die automatisc­hen Updates nicht aktivieren oder einfach wegklicken. Organisati­onen scheuen Aktualisie­rungen, weil sie oft komplexe Systeme mit sehr vielen Computern managen müssen.

Dass die nächste Angriffswe­lle kommt, bezweifelt niemand. Die Frage ist nur: wann? Und wen nehmen die Täter diesmal ins Visier? Einen ganz bestimmten Termin haben Sicherheit­sexperten im Auge: Am 24. September ist Bundestags­wahl. Die Erfahrunge­n der jüngeren Vergangenh­eit lehren, dass Hacker zunehmend Politik machen, wenn nicht sogar Weltpoliti­k. So haben amerikanis­che Geheimdien­ste Hinweise darauf, dass die Präsidents­chaftswahl­en in den USA manipulier­t wurden – zugunsten des Siegers Donald Trump. Auch im Vorfeld der Wahl Emmanuel Macrons zum Staatsober­haupt Frankreich­s waren sensible Informatio­nen aus seiner engsten Umgebung ins Internet gelangt. Es handelte sich um schon vor Wochen von Hackern erbeutete Dokumente.

„Wir müssen damit rechnen, dass auch versucht wird, in den Bundestags­wahlkampf auf diese Weise einzugreif­en – das Gegenteil würde mich wundern“, sagt CDU-Innenpolit­iker Wolfgang Bosbach als Reaktion auf die Attacken in den USA und Frankreich. Mehr oder weniger offen werden die Drahtziehe­r häufig in Russland vermutet. Thomas Jarzombek, Sprecher der CDU/CSU Bundestags­fraktion für die Digitale Agenda, lässt keinen Zweifel daran, wen er für die zurücklieg­enden Attacken für verantwort­lich hält. „Die Entscheidu­ng darüber wird im Kreml getroffen“, sagte er dem Berliner Tagesspieg­el.

Wladimir Putin höchstpers­önlich

Die meisten Fälle kommen nicht zur Anzeige Die Drahtziehe­r werden häufig in Russland vermutet

also, geheimer Regisseur der Bundestags­wahl? Wohl zu hoch gegriffen. Eine Einmischun­g in welcher Form auch immer, etwa über die Sozialen Netzwerke, scheint aber denkbar. Es waren angeblich russische Hacker, die mit einer CyberAttac­ke Katar in die Krise stürzten. Sie hatten die staatliche Nachrichte­nagentur unterwande­rt und bizarre Nachrichte­n veröffentl­icht – ein Affront gegen benachbart­e Golfstaate­n, die Katar sofort isolierten.

Der Präsident selbst winkt ab. Moskau plane keine Hackerangr­iffe auf die Bundestags­wahl, so Putin Anfang Juni auf einem Wirtschaft­sforum in Sankt Petersburg. „Auf staatliche­r Ebene machen wir so etwas nicht, und wir haben es auch nicht vor.“Und sie würden es ganz sicher auch nicht ankündigen.

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