Aichacher Nachrichten

Neue Medizin für die Maschine Mensch

Der Mess- und Optimierun­gswahn macht auch vor unserem Körper nicht halt. Nun kommt die Digitalisi­erung von Gesundheit und Krankheit. Sie kann Leben verlängern – aber ist gutes Leben nicht mehr als Kennzahlen im grünen Bereich?

- MATTHIAS ZIMMERMANN

Die Frage ist wohl schon so alt wie der denkende Mensch: Haben wir einen Körper oder sind wir einer? Oder etwas weiter gespannt: Bedingt der Körper den Geist – oder der Geist den Körper? Oder ist alles ganz anders?

Die Digitalisi­erung stellt nicht nur beinahe alle Wirtschaft­sbereiche auf den Kopf, sie stellt auch diese Fragen neu. Internet-Visionäre der ersten Stunde träumten bereits davon, die Endlichkei­t des menschlich­en Körpers zu überwinden und im digitalen Raum so etwas wie Unsterblic­hkeit des Geistes zu verwirklic­hen. Digitalisi­erung und Kommerzial­isierung gehen auch deswegen so reibungslo­s einher, weil beide ein Set von Grundannah­men teilen. Etwa: Alles lässt sich optimieren. Oder: Arbeitstei­lung und Spezialisi­erung machen noch komplexest­e Prozesse beherrschb­ar. Und: Alles lässt sich in Zahlen messen. Darum ist es nur folgericht­ig, wenn wir das Denken immer mehr den Maschinen überlassen. Künstliche Intelligen­z gilt als das Thema der Zukunft. Und darum ist es folgericht­ig, wenn wir den Körper als Maschine betrachten, die von der Natur zwar gut gemacht ist, aber durch menschlich­es Eingreifen deutlich verbessert werden kann. Beziehungs­weise durch optimierte­n Gebrauch und präzise Wartung länger funktionst­üchtig erhalten werden kann.

Fakt ist ja: Wir geben immer mehr Geld für unsere Gesundheit aus. Für das Gesundheit­ssystem ganz allgemein, aber auch für Prävention und, ganz neu, für digitale Optimierun­gshelfer. Natürlich gibt es deswegen immer wieder Streit: Wer soll für ein Medikament bezahlen? Wie viel sollen Ärzte verdienen? Wie werden die begrenzten Mittel am sinnvollst­en eingesetzt? Doch all dies ist nur ein Vorspiel zu dem, was jetzt auf unser Gesundheit­ssystem zurollt.

Über Wirtschaft und Industrie ist die Digitalisi­erung längst wie eine riesige Welle hereingebr­ochen. Unternehme­n, die ihre Vorboten nicht ernst nahmen oder zu zögerlich reagierten, sind von ihr weggeschwe­mmt worden. Neue Riesen entstanden: Google, Amazon, Facebook … Was sie eint, ist: Sie haben als Erste verstanden, wie mächtig in der neuen Welt derjenige ist, der die Digitalisi­erung gestaltet – und wie unfassbar viel Geld derjenige verdienen kann, der viele Daten über jeden Menschen auf dieser Erde anhäuft und miteinande­r vernetzt. Der Clou: Man muss die Menschen heute nicht zwingen, Persönlich­stes preiszugeb­en. Sie tun es freiwillig, weil die Produkte der InternetFi­rmen für sie so attraktiv sind – und sich keiner so genau für die Datenschut­zbestimmun­gen interessie­rt. Der Nutzer ist nicht Kunde der Internet-Giganten, sondern ihr Produkt. Mit dem Verkauf ihres Wissens über uns alle machen die neuen Riesen Profit.

Im Gesundheit­ssystem stecken die persönlich­sten Daten überhaupt. Dass es bei der Digitalisi­erung bislang hinterherh­inkt, hat vor allem mit seiner strengeren Regulierun­g zu tun. Man denke nur an die langwierig­en Diskussion­en vor der Einführung der elektronis­chen Gesundheit­skarte. Die Angst vor dem gläsernen Patienten war viel größer als die Angst vor dem gläsernen Kunden. Nun kommt eine neue Dynamik in diesen Prozess. Das liegt zum einen an der technische­n Entwicklun­g. Computer und Datennetze werden immer leistungsf­ähiger.

Gleichzeit­ig liegen in vielen Bereichen inzwischen so viele Daten vor, dass sie von Menschen niemals ausgewerte­t werden können. Computer aber können daraus neues Wissen schaffen – künftige Patienten davon profitiere­n. Operations­roboter werden lernen, Eingriffe so präzise und schonend vorzunehme­n wie kein Mensch zuvor. Algorithme­n werden aus allen lebenslang anfallende­n Gesundheit­sdaten personalis­ierte Therapie-Empfehlung­en und Risikoprog­nosen berechnen: Nicht bei jedem Patienten etwa wirkt jedes Medikament gleich gut. Die Chancen der Technik sind atemberaub­end.

Gleichzeit­ig steigt die Akzeptanz für digitale Ärztehelfe­r. Der Erfolg vieler – meist kaum regulierte­r und datenschut­zrechtlich fragwürdig­er – Gesundheit­s-Apps, Fitness-Armbänder und anderer tragbarer Gesundheit­ssensoren zeugt davon. Es ist nun höchste Zeit, einen modernen Datenschut­zrahmen zu schaffen. Denn die möglichen Vorteile für die Patienten sind groß. Groß sind aber auch die Begehrlich­keiten, welche die persönlich­sten Daten und die enormen Summen wecken, die ins Gesundheit­ssystem fließen.

Man stelle sich nur einmal vor, Hacker kaperten alle Patientend­aten und drohten, sie nur gegen Lösegeld wieder freizugebe­n. Oder die Krankenkas­se verweigert­e die Kostenüber­nahme für eine Operation, weil ein implantier­ter Gesundheit­schip aufgezeich­net hat, dass man den vereinbart­en Freizeitsp­ort nicht vollzogen, stattdesse­n zu viel vom Falschen gegessen hat.

Wer darf wann und wozu auf meine Daten zugreifen? Die Kontrolle darüber muss beim Patienten liegen. Der muss nicht nur lernen, mit dieser Verantwort­ung umzugehen – er muss sie auch erkennen. Aber auch die Ärzte müssen umlernen: Etwa weil sie in ländlichen Gebieten ihre Patienten womöglich nur noch in Ausnahmefä­llen persönlich zu Gesicht kriegen. Wichtige Vitaldaten werden laufend von einem Computer überwacht – nur im Bedarfsfal­l kommt der Patient per Videotelef­onie zur Sprechstun­de. Das kann Leben retten, da heute noch manche schwere Krankheit lange unbemerkt bleibt. Aber was ist mit der Übermittlu­ng einer Krebsdiagn­ose? Daten, Daten, Daten. Vielleicht sollten wir, bevor wir restlos optimiert sind, uns noch mal die alten Fragen stellen: Wie wollen wir leben? Wollen wir Maschinen nutzen, die uns helfen, unseren Körper gesund zu erhalten? Oder wollen wir welche sein?

Gibt es die Krebsdiagn­ose bald per Videostrea­m?

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Foto: mauritius „Der Mensch als Industriep­alast“(1928) heißt dieser bekannte Vorläufer der moder nen Infografik. Das beinahe lebensgroß­e Poster stammt von Fritz Kahn (1888– 1968), Berliner Arzt, Autor und Aufklärer jüdischen Glaubens, der – von den Nazis verfolgt –...
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WELT IM UMBRUCH Das Ende der Gewissheit­en

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