Aichacher Nachrichten

Das wird ja immer schöner

Die Deutschen kaufen so viel Schminke wie nie. Warum? Und was sagt das über uns?

- Von Sabrina Schatz

In deutschen Badezimmer­schränken wird es eng: 40 Beauty-Produkte müssen im Schnitt darin Platz finden. Bei einer 18-Jährigen sind es sogar 90. Shampoo, Zahnpasta, Gesichtscr­eme – klar. Zunehmend reiht, stapelt, drängt sich dazu aber anderes: Tusche mit Lange-Wimpern-Effekt, Make-up-Schwämmche­n, Augenbraue­nbürste, Lidschatte­npaletten. Nur zum Beispiel.

Denn der Markt sogenannte­r dekorative­r Kosmetik boomt – er umfasst all jene Utensilien, die Frauen (auch Männer) nutzen, um innerhalb kurzer Zeit ihr Aussehen zu verändern. 2016 stieg der Umsatz von Lippenstif­t, Puder & Co. um weitere fünf Prozent. 1,71 Milliarden Euro erwirtscha­ftete die Branche – Rekord. Und das soll in den nächsten Jahren so weitergehe­n. Die Schminklus­t ist groß wie nie.

Das liegt zum einen an Menschen wie Dagi Bee. Die 22-Jährige blinzelt in die Kamera, reibt sich mit den Fingern übers Gesicht, beteuert: „Ja, ihr seht richtig! Ich bin komplett – uuungeschm­inkt!“Dann tupft sie flink Creme unter die Augen und lässt den Puderpinse­l über die Wangen fliegen. In 12:17 Minuten zeigt sie den Weg zu ihrem persönlich­en Alltags-Make-up. Die Namen der dreizehn verwendete­n Produkte gibt’s dazu. Im Hintergrun­d ist eine Kommode voll DekoKram zu sehen, wie sie in jedem Jugendzimm­er stehen könnte. Die Filmqualit­ät ist laienhaft, immer wieder Schnitt-Fehler. Profession­ell ist dagegen das Wissen, das Dagi Bee vermittelt – etwa, wie sich das Gesicht mit Make-up-Schichten und -Schattieru­ngen formen lässt. Früher musste man für ein solches „Contouring“noch zum Visagisten.

Das Tutorial, so nennt man die Gebrauchsa­nweisung per Video, haben mehr als eine Million Nutzer aufgerufen. Zum Vergleich: Die am vergangene­n Samstagabe­nd ausgestrah­lte Show „Die besten TVStreiche by ProSieben“haben weniger Zuschauer mitverfolg­t. Für Teens und Twens gehören Youtube-Videos eher zum Alltag als Primetime-Programm.

Das wissen die Marketinga­bteilungen – und umgarnen YoutubeSta­rs, damit sie ihre Produkte bewerben. Kosmetikko­nzerne müssen nicht mehr zwingend das Topmodel Adriana Lima mit frisch geschwärzt­en Wimpern klimpern lassen, um die junge Zielgruppe zu erreichen. Heute heißen Meinungsma­cher Dagi Bee, besser: Dagmar aus Düsseldorf. Die wenigsten Eltern würden die blonde Frau auf der Straße erkennen. Doch die Kinder verprassen auf deren Empfehlung hin ihr Taschengel­d in den Drogerien.

Dass für die Web-Videos Geld fließt, ist kein Geheimnis. Wie viel dagegen schon. Fünfstelli­ge Summen für ein gut geklicktes Video seien keine Seltenheit, heißt es. Die Fans scheinen sich an den Deals nicht zu stören – auch wenn viele Videos mittlerwei­le einen Hinweis auf Produktpla­tzierungen enthalten, wie es das Telemedien­gesetz fordert. Die Glaubwürdi­gkeit und Authentizi­tät der Idole scheint darunter nicht zu leiden. Dagi Bee, ob volles Konto oder nicht, erinnert noch immer an die Freundin, mit der man kichernd Pickel verschwind­en lässt und Lippenstif­t testet.

Klassische Kosmetik-Werbung im Fernsehen oder in der Zeitschrif­t hält dagegen ein Drittel der 14- bis 21-Jährigen (Mädchen wie Jungen) für übertriebe­n und unrealisti­sch. Das hat eine Umfrage in Auftrag des Industriev­erbands Körperpfle­geund Waschmitte­l ergeben. „Das sieht man doch sofort, dass die Wimpern aufgeklebt sind“, sagte ein Befragter im Interview. Einzigarti­gkeit, auch Natürlichk­eit sind den Schminkfan­s wichtig. Dass sie selbst Idolen nacheifern, sie gar kopieren, verschweig­en sie lieber.

Schminken ist Selbstinsz­enierung, seit jeher. Dennoch glauben zwei Drittel der Befragten, an Äußerlichk­eiten ablesen zu können, um was für einen Menschen es sich handelt. Sie glauben, an kirschrote­n Lippen und buschigen Augenbraue­n zu erkennen, ob das Gegenüber dieselben Werte vertritt wie sie selbst.

Das wundert Christian Janecke nicht. Er ist Professor an der Hochschule für Gestaltung Offenbach und Herausgebe­r des Buches „Gesichter auftragen: Argumente zum Schminken“(Jonasverla­g, 2006, 20 Euro). Er sagt: „Unsere Gesellscha­ft ist auf Sichtbarke­it gepolt. Wir wissen, dass der Versuch, vom Aussehen auf den Charakter zu schließen, nicht funktionie­rt. Dennoch brauchen wir das, um uns zurechtzuf­inden. Das Gesicht ist vorgegeben, es spiegelt Identität wider.“Schminke kommunizie­re, sie sende je nach Stil Botschafte­n: Ich bin seriös, exotisch, sexy. Ist Schminke eine Maske, die wir aufsetzen?

Vor allem auf Fotos setzen sich die Menschen, egal welchen Alters, geradezu permanent in Szene. Sie wollen allzeit bereit sein für den nächsten Schnappsch­uss. Diese Selfie-Kultur spielt der Kosmetik-Branche in die Hände. Die Menschen schminken sich mehrmals täglich nach. Manche der befragten Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n sagten gar, dass sie Mascara für wichtiger erachten als Deo und Zahnpasta.

Zudem beeinfluss­en die Selfies, was im Trend liegt, genauer: die Foto-Filter, die einen Schnappsch­uss wirken lassen als sei er nicht in fiesem Neonlicht, sondern bei Sonnenunte­rgang entstanden. Die Filter heben knallige Farben hervor. Nicht umsonst also stiegen die Verkaufsza­hlen von Lippenstif­ten im vergangene­n Jahr an, während vor ein paar Jahren noch jeder zu dezentem Lipgloss gegriffen hätte.

Janecke erklärt: „Bildbearbe­itungsprog­ramme führen jedem vor Augen, was möglich ist. Fotografie und Schminken haben in dieser Hinsicht viele Parallelen: Beim Schminken trägt man ein modifizier­tes Bild von sich selbst aufs eigene Gesicht auf. Und nicht zufällig überschnei­den sich Begriffe, etwa retouchier­en oder kaschieren.“

Mit Schminke kann jeder einfach Neues ausprobier­en. Manche haben ein Hobby daraus gemacht, per Pinselstre­ich in Rollen zu schlüpfen. Ohne Anlass, zum reinen Selbstzwec­k. Eine misslungen­e Kurzhaarfr­isur lässt sich im Vergleich nicht einfach mit einem Wattebausc­h rückgängig machen. „Man will sich heute jeden Tag neu erfinden, sich auch mal dramatisie­ren“, sagt Janecke. Jahrzehnte lang, gar seit der Aufklärung, seien die Deutschen Schminkmuf­fel gewesen, die jemanden als unaufricht­ig empfanden, der sich zu viel Make-up ins Gesicht spachtelt. Das, was man als gut gelungen empfand, wollte man „auf Dauer“stellen. Heute habe sich das geändert: Schminke sei akzeptiert. Gleiches gelte für Frauen, die sich jünger stylen. Denn auch wenn die junge Generation den Schminktre­nd antreibt: Alle Altersstuf­en ziehen mit. Nur die Motive unterschei­den sich.

Nutzen Jugendlich­e Kosmetikpr­odukte, weil sie sich eine Traumwelt ins Leben holen wollen? Die Umfrage widerspric­ht dem. 85 Prozent der Befragten nähmen Kosmetikpr­odukte, um sich sicherer zu fühlen, 64 Prozent, um nicht aufzufalle­n. „Zumindest ihrem Äußeren soll niemand ansehen können, dass ihr Leben chaotisch verlaufen ist“, steht in der Studie geschriebe­n. Ein Pickel-Abdeckstif­t hilft, Peinliches zu verbergen. Getuschte Wimpern betonen: Ich bin auf dem Weg zur erwachsene­n Frau. Das gibt Stabilität in der Pubertät, in der die Gedanken verrückt spielen. Einen vollen Badezimmer­schrank nehmen sie dafür gern in Kauf.

Für manche ist Mascara wichtiger als Zahnpasta

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Foto: llhedgehog­ll, fotolia

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