Wenn die Gedanken unterwegs einfach versanden
17 Menschen besuchen die Tagesstruktur für Autismusspektrumstörung (kurz TASS) in Aichach. Eine Einrichtung der Lebenshilfe Aichach-Friedberg. Wie sie im Alltag mit ihrer Behinderung zurechtkommen und was sie von Menschen ohne Autismusspektrumstörung halt
„Es ist schön und grausig zugleich. Einerseits bekommt man alles aus seinem Umfeld mit, andererseits sind da plötzlich Überreizungen im Ohr, im Auge, auf der Haut und dem Herzen – alles ist auf einmal da.“Julia sitzt am Tisch, das dunkle Haar mit einem grünen Band zurückgesteckt. Brigitte SeidlWiessner stützt ihren Arm, der sich über einer Buchstaben-Tafel bewegt, und liest vor, was die junge Frau deutet. „Mit diesen Überreizungen kann ich gar nichts mehr, ich werde trottelig und geistig retardiert.“Julias Gesicht zeigt keine Regung. Sie ist eine von 17 Teilnehmern der Tagesstruktur für Menschen mit Autismusspektrumstörung (TASS). In Aichach gibt seit Ende 2015 eine zweite Einrichtung der Lebenshilfe Aichach-Friedberg, die nach gestiegenem Zulauf nötig geworden war. Denn die Betroffenen können in herkömmlichen Einrichtungen der Behindertenhilfe nicht angemessen betreut werden, in Werkstätten beispielsweise ist es ihnen zu laut und durcheinander.
Unter der Leitung von Brigitte Seidl-Wiessner werden in der TASS Handlungs- und Arbeitsläufe eingeübt wie zum Beispiel Gemüseanbau, Tierpflege oder Kochen. Darüber hinaus gibt es Diskussionsgruppen, Ausflüge und Freizeitangebote wie Schwimmen oder Kreativkurse, die die Flexibilität schulen. Somit wird individuell an der Entwicklung der Menschen gefeilt – was nur an einem geschützten Ort möglich ist. Die zwei Häuser in der Donauwörther Straße und in der Ludwigstraße in Aichach sind hell und ruhig, es gibt zahlreiche Rückzugsorte, einen großen Garten und eigene Gemälde an den Wänden.
Von Autismus hat jeder eine Vorstellung: Penibel angeordnete Gegenstände, zwanghafte Verhaltensweisen, das Unverständnis für Gefühlsregungen oder Gesichtsausdrücke, Sarkasmus, rhetorische Fragen. Doch der Begriff „Autismusspektrumstörung“gibt Aufschluss darüber, wie facettenreich das Phänomen ist und auch die Menschen sind, die damit leben (siehe Infoartikel). Anders als Julia strahlt Jonas über das ganze Gesicht. Seine blauen Augen blitzen. „Ich fühle mich im Inneren wie ein reicher, bunter Garten“, erklärt er mithilfe der Buchstabentafel, „aber wenn ich Blumen auf den Weg sende, vertrocknen sie. kann ich nicht, ich kann einfach nicht, und brauche Hilfe.“Brigitte Seidl-Wiessner erläutert dieses Phänomen: „Ein Aspekt des Autismus ist die beeinträchtigte Handlungskompetenz“, sagt sie. „Durch den Impuls, den ich hier durch das Stützen gebe, wird das Gehirn motiviert und fokussiert sich auf die Überwindung des Widerstands.“So kann eine Nachricht formuliert werden, trotz der gehemmten Handlungsfähigkeit. Es heißt fC, „facilitated Communication“, also gestütztes Schreiben. Daraus ergibt sich eine wertvolle Möglichkeit der Kommunikation, und der Bedarf danach ist groß. Andreas hat gerade noch Tomaten für das Mittagessen geschnitten. „Ich bin Autist im klassischen Sinne“, erzählt er. Sein Blick gleitet über das FC-Brett hinweg, auf dem seine großen Hände die Nachricht in Worte fassen. „Und zudem noch sehbehindert. So kann ich vieles sehr genau in meiner Innenschau betrachten. In der verbalen Konversation bin ich aber kaum kommunikativ.“
Eine andere Möglichkeit, die Seelenlandschaften nach außen zu manövrieren, ganz ohne Hilfe, ist die Kunst. Die Einrichtungen der TASS sind voll mit Werken ihrer Teilnehmer. Impulsive Malerei, wilde Kompositionen, Porträts: Man begegnet aufgerissenen Augen, flirrenden Farben, Angst und Wut – aber auch Ruhe und Frieden. Sarahs blaue Augen leuchten bei diesem Thema auf. „Damit zeige ich, was in mir sprudelt“, beginnt die junge mit den blonden Haaren. „Ich brauche keine abgelatschten Worte und kreiere so ganz neue Formen, ohne Buchstaben, nur mit Farbe – und der Pinsel ist mein Stimmband.“
Auch David ist gerne kreativ. Er grinst verschmitzt. „Im Malen können die ganzen Gefühle raus, die in mir stecken. Ohne Worte und ohne jemanden zu beleidigen.“Von ihm gibt es ein eindringliches Porträt, ein maskenhaftes Gesicht in Gold und Rot auf Königsblau, die Augen sind verengt, der Mund verschwimmt zu einem mehrfarbigen Strich. Es heißt „Mundtot“, mit dem Zusatz: „Das bin ich nicht“. Mit der Psycho- und Kunsttherapeutin Ingeborg Minnich sind mehrere Kunstprojekte entstanden, die auch ausgestellt wurden. Ihre Wirkung war enorm. „Das sind tiefgründige Einblicke in so besondere Menschen, die man nur selten bekommt“, beschreibt eine Besucherin ihre Empfindung.
Michael hält einen Eisbergsalat in den Händen. Er zieht behutsam ein Blatt ab und legt es in eine Schüssel. Was man nicht vermuten würde: Der bedächtige junge Mann liebt Rockmusik. Trommeln, zu AC/DC oder Luftgitarre spielen. „Ich bin gerne in Discos und Clubs unterwegs und mache Späße, bis ich zurechtgewiesen werde“, tippt er auf das FC-Brett. Empfindsamkeit und laute Musik – wie passt das zusammen? Alles eine Sache des Fokus. Bei einer Musikrunde im Haus der Donauwörther Straße, dem D21, wie es unter den Teilnehmern heißt, wird „Skandal im Sperrbezirk“geschmettert. Mit Trommeln, Klangstöcken und Rasseln. Der Rhythmus pulsiert durch die Luft, alle geDann hen darin auf. Manche mit geschlossenen Augen, andere übers ganze Gesicht strahlend. Ob ruhig versunken oder ausgelassen, jeder fühlt und verarbeitet die Musik auf seine eigene Weise.
„Ich habe gelernt, wie ich meine Beeinträchtigung der verwirrten Filteroffenheit kanalisieren kann“, erklärt Andi. Seine dunklen Haare fallen ihm in die Stirn, als er den Zeigefinger über die Tafel wandern lässt. „In der TASS gibt man Bilderfolgen und Regelstrukturen vor, sodass man wie ein Bergsteiger die Kletterpartie durch den Alltag meistern kann. Ich bin manchmal auf der schwarzen Piste unterwegs.“Dann fügt er hinzu: „Aber dann leuchtet mir Frau Seidl-Wiessner schon wieder heim.“Auch Gernot betont, wie wichtig die Betreuer für ihn sind. Mitten im Musizieren setzt er sich seine Trommel auf den Kopf und lächelt, als alle um ihn herum zu kichern beginnen. „Sie sind wie Leuchttürme auf unserem Weg“, erklärt er. Und mehr noch, Freunde, Begleiter und Helfer.
Alexander ist einer der wenigen TASS-Teilnehmer, die intensiven Blickkontakt aufbauen. Seine dunklen Augen glitzern unter einem Schutzhelm hervor. „Ich bin großartig im Abnabeln vom Alltag“, formuliert er. „Das ist eine Flucht in die bequeme Watte, in der ich mich nicht anstrengen muss. Leider verfolgen mich die wilden Betreuer dauernd mit Aufgaben, damit ich nicht vor Trägheit erlahme. Die sind sehr sportlich.“Das meint er durchaus wörtlich. Alexander ist Ausbruchprofi. Er fügt hinzu: „Wir haben aber meistens die gleichen Wege.“Einmal in der Woche fährt Betreuerin Susanne Indich mit volKünstlerin lem Bus nach Friedberg in die Kussmühle. Die TASS-Teilnehmer Gabriel, Andreas, Lukas und Alex sind dabei und schon voller Vorfreude. An der Kussmühle angekommen gehen sie zielstrebig durch den Nebeneingang, den für die Mitarbeiter natürlich, die Treppen hinauf und zur Theke. Dort treffen sie auf Angelika Indich, Susannes Tante. Ihr und ihrem Mann Karl gehört die Kussmühle, und sie freuen sich auf jeden Besuch der fleißigen Helfer. „Das sind tolle, tatkräftige Männer“, meint sie. Nach einer herzlichen Begrüßung nehmen sich die vier Jungs ihre Getränke aus der Bar: Spezi und Apfelschorle. „Ich arbeite hier gerne, weil ich angenommen bin und gemocht werde“, erklärt Alex. „Wir sind normale Arbeiter.“ Andreas fügt mit einem Grinsen hinzu: „Das sind richtige Tätigkeiten im Männlichen.“
Nach einem kurzen Zusammensitzen geht es auch schon los. Die Theke muss aufgefüllt werden, leere Flaschen weggebracht, die Kartonagen zerkleinert werden. Das, was sie in der TASS gelernt haben, hilft ihnen. „Es ist schön hier“, meint Lukas. „Wir sind glücklich, gute Erfahrungen zu machen.“Gerade zieht er einen Hubwagen, schwer bepackt mit Getränkekisten. Um die Kurve herum bleibt er am Zaun hängen, es geht weder vorwärts noch rückwärts. Andreas läuft hinter ihm und muss lachen. „Koa Schmoiz“, bemerkt er.
Nach getaner Arbeit gönnen sich die Tatkräftigen eine Pause an ihrem Stammtisch. Für ihre Leistung bekommt jeder einen Kussmühlentaler. Susanne stellt eine kleine Schatzkiste auf den Tisch, jeder wirft seinen Taler hinein. „Wenn sie voll ist, gibt es ein kostenloses Essen für die ganze TASS in der Kussmühle, natürlich mit Nachspeise“, erzählt sie. Das sei jedes Mal etwas ganz Besonderes. Gabriel schlürft zufrieden an seinem Spezi. „Man geht auf mich ein, man fördert mich, man liebt mich“, tippt er danach auf das FC-Brett. „Hier ist ein Ort, an dem ich mein Herz öffnen kann.“
Sind die TASS-Teilnehmer in der Stadt unterwegs, zum Krapfen essen, im Fitnessstudio, in Clubs zum Feiern oder nur zum Einkaufen, ernten sie immer Blicke. Das empfinden die Betroffenen unterschiedlich. Manuel kann nicht sprechen. Aber sein Finger springt entschlossen von Buchstabe zu Buchstabe. „Ich bin immer derjenige, der begutachtet wird“, schreibt der junge Mann mit der schwarzen Brille. „Aber viele sollten auch sich selbst ansehen. Ich stelle in den Verhaltensweisen vieler Normalos Autismus fest, aber die meisten merken es nicht einmal. Sie sind wild und zügellos, und so süchtig nach Liebe, Anerkennung und Aufmerksamkeit. Ich finde das zwanghaft.“Tobias wiegt nachdenklich den Kopf. „So was kenne ich. Das Gucken verstehe ich, wenn etwas anderes ist“, tippt er. „Viele Menschen sehen uns trotzdem mit dem Herzen an, das spüre ich, und wertschätze es sehr.“
Was die Arbeit mit den TASSTeilnehmern so faszinierend und schön macht, darüber sind sich alle Betreuer einig. „Autisten fühlen schon fast jeden Gedanken“, meint Brigitte Seidl-Wiessner. Es sei ein intensives Miteinander, fügt Susanne Indich hinzu. „Man lernt schnell, welche anderen Möglichkeiten es gibt, sich auszutauschen, wie Blicke, Gesten. Es wird so viel gelacht und gescherzt, wir lernen uns hier ganz neu kennen.“
Annerose sitzt in einem der hellen Zimmer am Schreibtisch. Die kinnlangen Haare fallen ihr ins Gesicht, als sie sich über den Katalog beugt. Er ist zerknittert, Seite für Seite streicht sie um, gleichmäßig. Sie tippt nicht gerne auf dem fC-Brett, aber auf die Frage, wie sie ihren Autismus wahrnimmt, will sie antworten: „Ich bin gerne, wie ich bin. Es gibt so viel Armut. Mir ist mein Leben wichtig. Ich möchte nicht tauschen.“
Von Autismus hat jeder eine ganz eigene Vorstellung Das gute Gefühl, gefördert und geliebt zu werden