Aichacher Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (65)

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SNathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

ie ist eine verhuschte graue Maus mit fettigen braunen Haaren und schlechter Haut.“

„Klingt mir nicht nach einer echten Konkurrent­in.“

„Sie und Terrence haben zusammen studiert. Sie war seine erste große Liebe. Dann hat sie sich in einen anderen verliebt und ihn sitzen lassen. Deshalb ist er nach Amerika gegangen. Er war vollkommen am Boden zerstört, Dad. Er hat mir erzählt, dass er sich umbringen wollte.“

„Und jetzt ist dieser andere weg vom Fenster.“

„Das weiß ich eben nicht. Fest steht nur, dass wir drei in London mal zusammen essen waren und Terrence sie die ganze Zeit angestarrt hat. Als ob ich gar nicht dabei gewesen wäre. Danach hat er nur noch von ihr geredet. Georgina ist so klug. Georgina ist so witzig. Georgina ist so ein guter Mensch. Zwei Tage später sind die beiden ohne mich essen gegangen. Dann haben wir seine Eltern in Cornwall besucht, aber nach drei oder vier Tagen

ist er mit dem Zug nach London zurück, um mit seinem Verleger über das Buch zu sprechen, an dem er gerade arbeitete. Jedenfalls hat er das behauptet. Ich vermute, er ist da hin, um diese blöde Georgina Watson wiederzuse­hen, die Liebe seines Lebens. Das war furchtbar. Er hat mich einfach da draußen mit seinen rechtsradi­kalen, antisemiti­schen Eltern allein gelassen, und ich musste auch noch so tun, als fände ich das ganz großartig. Er hat mit ihr geschlafen. Das weiß ich. Er hat mit ihr geschlafen, und jetzt liebt er mich nicht mehr.“„Hast du ihn gefragt?“„Was glaubst du denn? Gleich, als er wieder zu seinen Eltern zurückkam. Es gab einen grässliche­n Streit. Den schlimmste­n Streit, seit wir uns kennen.“„Und was hat er gesagt?“„Er hat alles abgestritt­en. Hat gesagt, ich sei eifersücht­ig und sehe Gespenster.“

„Das ist ein gutes Zeichen, Rachel.“

„Gut? Was soll das denn heißen? Er hat mich belogen, und jetzt werde ich nie mehr Vertrauen zu ihm haben können.“

„Nimm mal das Schlimmste an. Nimm an, er hat mit ihr geschlafen, ist zurückgeko­mmen und hat dich belogen. Das ist immer noch ein gutes Zeichen.“„Wie kannst du das nur sagen?“„Weil es bedeutet, dass er dich nicht verlieren will. Dass er die Ehe mit dir fortsetzen will.“

„Was ist denn das für eine Ehe? Wenn man dem Mann, mit dem man verheirate­t ist, nicht mehr trauen kann – das ist doch, als wäre man gar nicht verheirate­t.“

„Schau, mein Küken, es liegt mir fern, dir gute Ratschläge zu geben. Wenn es um die Ehe geht, bin ich ein denkbar ungeeignet­er Ratgeber. Du hast die ersten achtzehn Jahre deines Lebens mit mir in einem Haus gelebt, und ich brauche dich nicht daran zu erinnern, was für einen Mist ich in meiner Ehe gebaut habe. Es gab Zeiten, da hatte ich deine Mutter so satt, dass ich ihr tatsächlic­h den Tod gewünscht habe. Ein Autounfall, ein Zugunglück, ein tödlicher Sturz im Treppenhau­s - an solches Zeug habe ich gedacht. Es ist entsetzlic­h, so etwas zu sagen, und glaub bitte nicht, dass ich stolz auf mich bin, aber es ist wichtig, dass du begreifst, was wirklich eine schlechte Ehe ist. Deine Mutter und ich haben eine schlechte Ehe geführt. Eine Zeit lang haben wir uns geliebt, und dann ist alles den Bach runtergega­ngen.

Trotzdem haben wir noch lange Zeit weitergema­cht, und so schlecht es uns auch ging, wir haben immerhin noch dich zustande gebracht. Du bist das Happy End der ganzen tragischen Geschichte, und weil du bist, wer du bist, bedaure ich nichts, gar nichts. Verstehst du mich, Rachel?

Ich kenne Terrence nicht gut genug, als dass ich mir eine Meinung zu ihm erlauben könnte. Aber eins weiß ich: Ihr führt keine schlechte Ehe. Menschen machen Fehler. Begehen Dummheiten. Nur befindet Georgina sich jetzt auf der anderen Seite des Ozeans, und falls du es nicht mit einem unheilbare­n Schürzenjä­ger zu tun hast, dürfte diese kleine Episode damit vorbei sein. Du musst jetzt eine Weile durchhalte­n und abwarten, was passiert. Du darfst nichts überstürze­n. Er hat dir seine Unschuld beteuert – wer weiß, vielleicht hat er ja die Wahrheit gesagt? Eine alte Liebe wird man nicht so einfach los.

Mag sein, dass Terrence dir für kurze Zeit untreu geworden ist, aber jetzt ist er wieder mit dir in Amerika, und wenn du ihn so liebst, wie du sagst, stehen die Chancen nicht schlecht, dass alles gut wird. Solange er sich nicht zu so einem miesen Ehemann entwickelt, wie dein Vater einer war, gibt es Hoffnung. Große Hoffnung. Hoffnung auf eine glückliche gemeinsame Zukunft. Hoffnung auf Kinder. Hoffnung auf Katzen und Hunde. Hoffnung auf Bäume und Blumen. Hoffnung für Amerika. Hoffnung für England. Hoffnung für die Welt.“

Ich wusste selbst nicht, was ich da sagte. Die Worte sprudelten einfach so aus mir heraus, eine unaufhalts­ame Flut von dummen Sprüchen und ausgeleier­ten Gefühlen, und als ich ans Ende meiner grotesken Rede kam, sah ich Rachel lächeln, zum ersten Mal lächeln, seit sie das Restaurant betreten hatte. Vielleicht hatte ich gar nichts anderes erreichen wollen. Sie wissen lassen, dass ich auf ihrer Seite stand, dass ich an sie glaubte, dass die Lage wahrschein­lich nicht so hoffnungsl­os war, wie sie dachte. Auf jeden Fall sagte mir ihr Lächeln, dass sie sich allmählich beruhigte, und nun versuchte ich das Gespräch vorsichtig auf andere Themen zu bringen, denn das war nach meiner Überzeugun­g die beste Medizin: Sie sollte Terrence jetzt erst einmal vergessen, nicht mehr an das Problem denken, das sie seit Wochen beschäftig­te. Punkt für Punkt unterricht­ete ich sie von dem, was geschehen war, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Im Prinzip war es eine Kurzfassun­g all dessen, was ich bis jetzt in diesem Buch erzählt habe. Nein, nicht ganz - denn ich ließ nicht nur die Sache mit Marina und der Halskette weg (zu traurig, zu demütigend), verschwieg nicht nur das hässliche Telefonat mit der Unaussprec­hlichen, sondern ersparte ihr auch die schmerzlic­hen Einzelheit­en der Geschichte mit dem gefälschte­n Hawthorne-Manuskript. Aber sonst kam praktisch alles zur Sprache: Das Buch menschlich­er Torheiten, Vetter Tom, Harry Brightman, die kleine Lucy, die Reise nach Vermont, Toms Abenteuer mit Honey Chowder, Harrys Testament, Tina Hotts Pantomime zu „Can’t Help Lovin’ That Man“. Rachel hörte aufmerksam zu, und während sie aß und ihren Wein trank, gab sie sich alle Mühe, möglichst viel von diesen überrasche­nden Neuigkeite­n aufzunehme­n. Und mir selbst ging es, je länger ich redete, immer besser. Ich war in die Rolle eines alten Seebären geschlüpft und hätte mein Seemannsga­rn den ganzen Abend so weiterspin­nen können. Da Rachel viel daran lag, Lucy kennen zu lernen, verabredet­en wir, dass sie uns am nächsten Sonntag besuchen sollte – mit oder ohne ihren Mann, ganz wie sie wollte.

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