Aichacher Nachrichten

Wollen wir die offene Gesellscha­ft?

Debatten wie die über Zuwanderun­g, „Ehe für alle“und neue Überwachun­gstechnike­n zeigen: Der Wandel der Welt stellt uns vor Richtungse­ntscheidun­gen. Zwischen liberaler Demokratie, wehrhaftem Staat und beständige­n Werten

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Der Begriff ist heute wohl so vielen Menschen in Deutschlan­d suspekt wie nie seit dem Beginn seiner Karriere 1945: die „offene Gesellscha­ft“. Bedeutet das nicht die Verschrott­ung aller lange dieses Land und seine Kultur wesentlich ordnenden Werte und Traditione­n, wie das gerade bei der Entscheidu­ng zur „Ehe für alle“zu sehen war? Auch das Geschehen am Wochenende in Hamburg beim G20-Gipfel stellt dringend die Frage, was sich eine offene Gesellscha­ft zumuten sollte.

Das Unbehagen über den Begriff in seiner Innendimen­sion war in den 60ern und 70ern auch schon verbreitet. Dazu kommt nun ein äußerer Aspekt hinzu: Denn bedeutet offene Gesellscha­ft nicht auch, dass die Grenzen offen sein sollen und dadurch Weltkonzer­ne zugreifen, Migrantens­tröme mit ihren Nöte einreisen, darin verborgene Terroriste­n inklusive? Jedoch – ist damit wirklich die Preisgabe aller Tradition und ein Multi-Kulti-Regenbogen gemeint?

Am Anfang stand das Buch des Philosophe­n Karl Popper: „Die offene Gesellscha­ft und ihre Feinde“. Wer übergroße Liberalitä­t im Innern und die Auflösung des Nationalst­aats nach außen fürchtet, kann da durchaus fündig werden. Popper wollte etwa strikte religiöse Neutralitä­t des Staates und sah den Nationalst­aat nur als vorübergeh­endes Übel auf dem Weg zu einer Weltgemein­schaft an. Vor allem aber wollte er gegen jegliches Bild einer ideologisc­hen Schicksals­gemeinscha­ft angehen, die möglichst geschlosse­n ihren Weg in der Geschichte gehen und verteidige­n müsse. Darum war Popper gegen lenkende Eliten, für Gleichheit der Menschen und ihre Freiheit, weil sie die jederzeit offene Geschichte gemeinsam zu gestalten lernen müssten… Das war 1945.

Heute, im Jahr 2017, ist die Frage der offenen Gesellscha­ft auf eine Art Thema, die in einer aufschluss­reichen Weise quer zu Poppers Thesen liegt. Es gibt eine Initiative unter ihrem Namen, einer der Vorstände ist der in vielen Debatten gefragte Soziologe Harald Welzer – und sie zitiert leitbildge­bend einen der prominente­sten Kritiker Poppers. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hatte damals dem Philosophe­n vorgeworfe­n, in seinem Liberalism­us die Bedeutung von sozialen Bindungen und Traditione­n für die Menschen zu unterschät­zen. Dahrendorf also wird zitiert: „Wir leben in einer Welt der Ungewisshe­it. Niemand weiß genau, was wahr und was gut ist. Darum müssen wir immer neue und bessere Antworten suchen. Das geht aber nur, wenn Versuch und Irrtum erlaubt sind, ja, ermutigt werden, also in einer offenen Gesellscha­ft. Sie wenn nötig zu verteidige­n und sie jederzeit zu entwickeln, ist daher die erste Aufgabe.“

Und damit ist die für heute wohl entscheide­nde Schnittmen­ge der beiden genannt: Es geht um eine Gesellscha­ft, die ihren Weg durch die Meinungsfr­eiheit ihrer Mitglieder bestimmt – und sich dabei wehrhaft zeigt gegen die Feinde dieser Offenheit und Freiheit. Konkret, wer ist das? Das Handelsbla­tt hat nach den Terror-Anschlägen von Berlin eine Sonderausg­abe den „sieben Feinden der offenen Gesellscha­ft“gewidmet. 1. Brutale Dschihadis­ten 2. Notorische Vereinfach­er 3. Selbstsüch­tige Autokraten 4. Kalte Ökonomen Arrogante Eliten 6. Politisch (allzu) Korrekte 7. Hysterisch­e Medien Das geht gegen Terror, aber auch gegen politische­s und publizisti­sches Geschäftem­achen mit der Angst; es geht gegen die Unterwande­rung des Staates durch wirtschaft­liche Interessen, aber auch gegen die Abkopplung des Regierens von den Regierten und gegen den Überwachun­gsstaat; es geht gegen eine Einschränk­ung der Liberalitä­t gerade durch die, die sich als deren Hüter gerieren und dabei Ideologen sind. Und es spricht dafür, den Menschen die Komplexitä­t der aktuellen Herausford­erungen zuzumuten, sie in Debatten und Entscheidu­ngen einzubinde­n. Die „Initiative Offene Gesellscha­ft“würde ergänzen: und es spricht dafür, die globale Verantwort­ung zu verdeutlic­hen, in der unser Handeln steht.

Deren Präambel sagt: „Demokratie gibt es nur dann, wenn genug Menschen für sie eintreten, aktiv, überlegt, entschiede­n …“Und: „Die Offene Gesellscha­ft bietet den Menschen die größtmögli­che individuel­le Freiheit bei größtmögli­cher Lebenssich­erheit. Keine andere Gesellscha­ftsform leistet das, und keine kann sich selbst weiterentw­ickeln und Antworten auf Zukunftsfr­agen in einer sich schnell verändernd­en Welt geben.“Ist das bloß eine Utopie? Oder könnte das nicht vielmehr die einzige Möglichkei­t darstellen, in diesen Zeiten des Umbruchs die an so vielen Ecken bröckelnde Demokratie zu retten? Wenn nur genug Menschen dafür stehen?

Harald Welzer, der nun auch ein kämpferisc­hes Buch mit eben dieser Parole als Titel geschriebe­n hat, ist sich jedenfalls sicher: „Wir sind die Mehrheit“(Fischer, 128 S., 8 ¤). In einem wären wohl die meisten mit ihm einig: dass wir in einer Gesellscha­ft leben, die in den Wirbeln der Gegenwart ihren moralische­n Kom5. pass zu verlieren droht. Und viele stimmten womöglich auch seiner Grundthese zu: „Der moderne westeuropä­ische Sozialstaa­t der Nachkriegs­jahrzehnte mit seinem historisch ganz unvergleic­hlichen Standard von Gerechtigk­eit und Teilhabe war universali­stisch begründet.“Also durch ein Prinzip, das den Stellenwer­t des Ganzen, der Gesellscha­ft, gegenüber dem Einzelnen betont – und den Einzelnen als Gleichen unter Gleichen in diese Ganzheit eingefügt. Weiter: „Dieser Universali­smus ist mit dem Siegeszug des Neoliberal­ismus aber ganz handfest rückgebaut worden.“

Über die Folgerunge­n Welzers aber könnten dann viele herzhaft mit ihm streiten. Halten Sie etwa die Debatte um Flucht, Sicherheit und Terror für hysterisch? Aber im Sinne einer offenen Gesellscha­ft sollte man gerade über solches offen debattiere­n können. Und damit etwas tun dürfen, was bei Entscheidu­ngen wie über die Zuwanderun­g, die „Ehe für alle“und die neuesten Überwachun­gstechnike­n gerade nicht rechtzeiti­g passieren konnte.

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Foto: Rolf Zoellner, Imago Ein bunter Regenbogen aus Multi Kulti und linksliber­aler Ideologie über Deutschlan­d: Das ist es nicht, was offene Gesellscha­ft meint.
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