Das blaue Band der Leichtathletik
DVON ANTON SCHWANKHART ie olympische Kernsportart Leichtathletik ist national ein Nischensport. Also sucht sie sich für ihre deutschen Meisterschaften Zwischenräume und Randgebiete aus. Es bleibt ja nicht viel. Die wenigen fußballfreien Wochenenden muss sie sich mit der Tour de France und Wimbledon teilen.
Die großen Stadien sind für sie tabu. Sie gehören dem Fußball. Nur das Berliner Olympiastadion besitzt überhaupt noch eine Laufbahn. Möglicherweise nicht mehr lange. Berlins Hertha will im Doppelpass mit der Landesregierung das blaue Laufband ums Spielfeld zugunsten eines Umbaues in ein reines Fußballstadion loswerden. Das würde Deutschland als Leichtathletik-Standort für internationale Großereignisse demontieren. Ohne das blaue Band gibt es hierzulande weder Olympischen Spiele noch Weltmeisterschaften. Die Leichtathletik wehrt sich. Dem Fußball wird sie nicht standhalten. Die EM 2018 verschafft ihr auf großer Bühne Aufschub. Anschließend kommen die Bagger.
Bundesliga-Stadien sind für die deutsche Leichtathletik zu groß. Selbst wenn sie meisterschaftstauglich wären, würden Titelkämpfe in Köln oder Frankfurt den Ausrichter in den Ruin treiben. Also sucht sich die Leichtathletik Plätze dort, wo im Fußball zweite, dritte oder vierte Liga zu Hause sind. Kleine Bühnen wie in Erfurt. Selbst die 17 000 Plätze im Steigerwaldstadion waren dort nur zu zwei Dritteln gefüllt. Andererseits: Hier hat der Begriff von der Sportfamilie noch Inhalt. Die Leichtathletik hat ihr kleines, feines und treues Publikum. Neue Schichten aber erschließt sie nicht. Dafür fehlen ihr Stars und Identifikationsfiguren. Nicht dass die Deutschen keine Top-Athleten hätten. Hammer-, Diskus-, Speerwerfen oder Kugelstoßen – bei allem, was fliegt, sind die Deutschen stark. In den populären Laufdisziplinen aber hinken sie der internationalen Spitze hinterher. Das mag begrüßen, wer ahnt, wie Fabelzeiten zustande kommen. Eine Athletin wie die Allgäuer 100-m-Europameisterin von 2010, Verena Sailer, die sich über ein Jahrzehnt nachvollziehbar gesteigert hat, würde der deutschen Leichtathletik dennoch ein neues Gesicht verleihen. Vielleicht gelingt das der 20-jährigen Gina Lückenkemper, die in Erfurt die 100 m in beachtlichen 11,01 Sekunden gewonnen hat. Diskuswurf-Olympiasieger Christoph Harting hat sich mit seiner Hampelmann-Einlage in Rio disqualifiziert. In Erfurt ist er auch sportlich abgestürzt. Harting darf nicht zur WM nach London (4.–13. August). Hochkommen ist eine Sache, oben bleiben eine andere. Das hat ihm sein ebenso eigenwilliger Bruder Robert voraus. Der dreimalige Weltmeister, Olympiasieger und Trikot-Zerteiler hat sich zurückgemeldet. Der Senior bleibt das Gesicht der deutschen Leichtathletik, ob man mag oder nicht.