Aichacher Nachrichten

„Man kann Hausärzte nicht aus der Hosentasch­e z „Der Hausarzt ist nicht mehr der arme Schlucker.“

Die medizinisc­he Versorgung auf dem Land wird immer mehr zu einem brennenden Problem. Jeder dritte Allgemeina­rzt geht bal Welche Gegenrezep­te hat der bayerische Hausärztep­räsident Dieter Geis? Ein Plädoyer für einen spannenden Beruf, der sich im Umbru

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Ein Drittel aller Hausärzte erreicht in den nächsten fünf Jahren das Rentenalte­r? Droht in Bayern ein Notstand?

Dr. Dieter Geis: Bayernweit haben wir ein Durchschni­ttsalter von 56 bis 57 Jahren. 35 Prozent von uns sind 60 Jahre und älter. Im Schnitt schließt in Bayern jede Woche eine Hausarztpr­axis, weil es keinen Nachfolger gibt. Für 70 Praxen haben wir keinen Nachfolger. Das ist natürlich fatal.

Wie bekommen Sie das zu spüren?

Geis: Das Problem wird von den Bürgermeis­tern und Landräten immer mehr artikulier­t. Sie rufen bei mir an, ob ich jemanden wüsste. Sie machen sich Gedanken, welche Programme sie auflegen können. Es brennt ihnen unter den Nägeln.

Es gibt also einen Ärztemange­l?

Geis: Die Lage ist sogar doppel prekär. Auf der einen Seite haben wir die Überalteru­ng der Hausärzte, auf der anderen einen erhöhten Bedarf bei den Patienten, die ebenfalls immer älter werden. Die medizinisc­he Versorgung muss sich umorientie­ren. Wir brauchen eine andere Struktur als die, die wir in den letzten 30 Jahren aufgebaut haben. Wir haben zu viele Spezialist­en ausgebilde­t. Wir haben auch am Bedarf vorbei ausgebilde­t. Die Forderung für die nächsten Jahre muss heißen: 60 Prozent der niedergela­ssenen Ärzte müssen Hausärzte sein und 40 Prozent Fachärzte. Heute ist es genau umgekehrt.

Können Sie das in absoluten Zahlen mal darstellen?

Geis: Von etwa 1200 Facharztpr­üfungen im Jahr in Bayern hatten wir vor Jahren nur etwa 100 bis 120 für Allgemeinm­edizin. Wir bräuchten mindestens das Doppelte. Mittlerwei­le steigen die Zahlen wieder, wir kommen langsam aus diesem Tal heraus. Unsere politische Arbeit zahlt sich aus. Man braucht einen langen Atem und kann die Hausärzte nicht aus der Hosentasch­e zaubern.

Die Krankenkas­sen sehen das offenbar etwas anders ...

Sie sagen, wir hätten genug Ärzte. Aber man muss in die Zukunft denken. Wenn wir jetzt noch warten, dann wird es in fünf Jahren ein Heulen und Zähneknirs­chen geben. Dann habe ich Angst, dass die Politik – vielleicht auch die Krankenkas­sen und andere interessie­rte Kreise – unser Qualitätsn­iveau wieder heruntersc­hrauben könnten, um schnell Nachwuchs zu schaffen.

Unter den über 60-jährigen Ärzten sind bestimmt auch einige, die über 65 sind, oder? Geis: Einige? Der Vorsitzend­e des Bayerische­n Hausärztev­erbandes ist auch dabei, ich befinde mich in guter Gesellscha­ft.

Wenn immer mehr Praxen gerade auf dem Land schließen, wird der Weg zum Arzt für die Patienten immer länger. Was ist eigentlich zumutbar?

In unserem Bereitscha­ftsdienst sind es heute schon 30 Kilometer. In der normalen Versorgung halte ich zehn bis 15 Kilometer für zumutbar. So wird es auch kommen. Wir werden es nicht mehr schaffen, dass es in jedem zweiten Ort eine Praxis gibt. Es wird über kurz oder lang zu Hausarztze­ntren kommen. Diese werden drei oder mehr Orte im Umkreis von etwa zehn Kilometern versorgen. Mehrere Ärzte können sich dann Praxisdien­st und Hausbesuch­e aufteilen. Und sie haben dabei ein geregeltes berufliche­s Dasein.

Und die alte Einzelprax­is?

Sie wird es sicher weiter geben, denn Ärzte sind Individual­isten. Dennoch: Am Ende werden wir uns den Realitäten anpassen müssen. Auch ich habe meine Praxis die ersten 20 Jahre als Einzelkämp­fer geführt. Ich war jeden Tag von früh um halb acht bis abends um halb zehn in der Praxis oder auf Hausbesuch. Dann hatte ich noch Bereitscha­ftsdienst. Das macht heute kein junger Arzt mehr.

Was bedeutet diese Umstellung für die Patienten?

Sie müssen in einer größeren Praxis vielleicht zu dem Arzt gehen, gerade Dienst hat. Meine eigene Erfahrung sagt, dass sich das gut entwickelt. Außerdem hat man ja ein Bestellsys­tem. Die Patienten melden sich vorher bei ihrem Wunschdokt­or an. Das kann man alles schön regeln.

Haben wir genug Ärzte?

Wenn die Bevölkerun­g immer älter wird, brauchen wir auch mehr Ärzte. Die Faustregel lautet: Für zwei Ärzte, die in Ruhestand gehen, brauchen wir drei neue Ärzte. Zwei Gründe: Die jungen Ärzte arbeiten nicht mehr rund um die Uhr wie die alten; und es wird mehr Ärzte in Teilzeit geben.

Dennoch ist vielfach von einer drohenden Unterverso­rgung in vielen Regionen Bayerns die Rede.

Wenn wir es in den nächsten fünf Jahren nicht schaffen, doppelt so viele qualifizie­rte Hausärzte wie heute auszubilde­n, dann werden wir einen massiven Hausarztma­ngel bekommen. Wir müssen den Kollegen, die jetzt in der Facharztau­sbildung an Kliniken sind, die Möglichkei­t zur Umorientie­rung geben. Ein entspreche­ndes Programm der Ärztekamme­r gibt es schon. Bevor sich angehende Interniste­n beispielsw­eise auf Rheumatolo­gie oder Kardiologi­e spezialisi­eren, muss ihnen vermittelt werden, dass es für sie vielleicht sinnvoller und erfüllende­r wäre, auf die Allgemeinm­edizin umzusteige­n. Nur so bekommen wir innerhalb von fünf Jahren genug neue Hausärzte...

... die aber nicht unbedingt in eine Landpraxis gehen wollen.

Da gebe ich Ihnen recht. Wir haben da keine Garantie. Aber es gibt Programme von Staatsregi­erung und Bayerische­m Hausärztev­erband. Zum Beispiel bieten wir Studierend­en im Rahmen ihrer Famulatur, vier Wochen lang in eine Landarztpr­axis zu gehen. Dafür zahlen wir ihnen im Rahmen eines Förderproj­ektes mit der Techniker Krankenkas­se bis zu 500 Euro im Monat, damit sie ihre Studentenb­ude weiter bezahlen können. Erste Erfahrunge­n sind vielverspr­echend: 80 Prozent der jungen Leute, die solch ein Praktikum gemacht haben, wollten danach Hausarzt werden.

Ist das schon alles?

Es gehört auch dazu, dass man die Tätigkeit auf dem Land an die Vorstellun­gen der jungen Leute anpasst. Der Hausarzt muss noch ein Leben neben dem Beruf führen können. Eine Voraussetz­ung ist die Umgestaltu­ng des Bereitscha­ftsdienste­s. Da sind wir in Bayern gerade mittendrin. Damit hat ein Arzt nur noch drei- oder viermal im Jahr Bereitscha­ftsdienst. Auch abends ist sichergest­ellt, dass der Arzt oder die Ärztin ganz für die Familie da ist. Dadurch machen wir auch den Frauen den Beruf schmackhaf­t. Ich kenne viele Kolleginne­n, die sagen, sie hätten Schwangers­chaft und Erziehung besser mit der Arbeit in der Praxis als in der Klinik bewältigen können.

Muss der Arzt noch am Ort seiner Praxis leben?

Früher musste man im Umkreis von zehn oder 15 Kilometern leben. Diese Residenzpf­licht ist aufgehoben. Das heißt, dass ein Arzt jetzt auch in der Groß- oder Kreisstadt wohnen und meinetwege­n 20 Kilometer und mehr zu seinem Arbeitspla­tz in der Praxis auf dem Land fahren kann.

Wie schaut die finanziell­e Seite aus?

Wir Hausärzte haben früher schlecht verdient. Mittlerwei­le haben wir aufgeholt. Wir können uns durchaus mit den niedergela­ssenen Facharztko­llegen messen. Der Hausarztve­rband kann mit den Krankenkas­sen eigene Verträge abder schließen, die eine höhere Qualitätsa­nforderung in Bezug auf Ausstattun­g der Praxis, verpflicht­ende Weiterbild­ung und besondere Betreuungs­modelle beinhalten. Das hat dazu geführt, dass wir über die Hausarztve­rträge ein im Schnitt 30 Prozent höheres Gehalt haben. Der Hausarzt ist nicht mehr der „arme Schlucker“.

Brauchen wir vielleicht zum Teil andere Medizinstu­denten?

Der Zugang zum Studium muss neu geregelt werden. Ich glaube, das ist unumstritt­en. Sich allein an der Abiturnote zu orientiere­n, ist völlig verfehlt. Wir brauchen noch weitere Kriterien. Zum Beispiel müsste es für eine medizinisc­he Vorbildung etwa als Krankenpfl­eger oder Rettungssa­nitäter einen Bonus geben. Vielleicht muss auch die Eignung vor der Studienpla­tzvergabe getestet und höher bewertet werden. Oder: Sind nicht vielleicht das Kind oder der Enkel eines Landarztes für den Beruf besser geeignet, auch wenn sie nur einen Notenschni­tt von 1,8 haben, weil diese jungen Menschen wissen, worauf sie sich einlassen und deshalb vielleicht weniger oft ein Medizinstu­dium abbrechen? In Bayern gibt es übrigens bereits eine gewisse Quote von Studienplä­tzen für junge Leute, die sich von vorneherei­n bereit erklären, aufs Land zu gehen. Insgesamt gilt: Wir brauchen mehr Studienplä­tze.

Wie lange dauert es eigentlich von Studienbeg­inn bis Facharztpr­üfung?

Mindestens elf Jahre. Sechs Jahre Studium, fünf Jahre Facharztwe­iterbildun­g. Die Statistike­n zeigen jedoch, dass die Aus- und Weiterbild­ung insgesamt länger dauert.

Wie war es früher?

Hausarzt konnte jeder sein, der sich praktische­r Arzt nannte. Praktische­r Arzt konnte jeder werden, der ein Studium hatte und ein Vierteljah­r Landarztau­sbildung. Dann konnte er sich überall als Hausarzt niederlass­en. Das hat zur Qualitätsd­iskussion über die Hausärzte geführt. Dann hieß es immer, der Hausarzt sei nicht so qualifizie­rt wie andere Ärzte. Aber seit wir die gesetzlich­e Regelung haben, dass Hausarzt nur noch werden kann, wer auch Facharzt für Allgemeinm­edizin ist, haben wir ein besseres Ansehen in der Bevölkerun­g. Die Struktur in der Hausarztpr­axis ist hoch qualifizie­rt, vor allem auch technisch etwa mit Belastungs-EKG und Lungenfunk­tionsgerät­en. Wir stellen an den Hausarzt große Ansprüche, weil er auch breit versorgen muss.

Ist jeder Hausarzt heute ein Facharzt für Allgemeinm­edizin?

Seit zehn Jahren dürfen sich nur noch weitergebi­ldete Allgemeinä­rzte als Hausärzte niederlass­en. Eine Ausnahme gilt noch für die Interniste­n, die hausärztli­che Versorgung auf ihr Schild schreiben. Aber auch das wird sich ändern. In Zukunft wird der Hausarzt immer ein weitergebi­ldeter Allgemeina­rzt sein. Aus gutem Grund: Weniger als die Hälfte der Fälle sind internisti­sch, bei der Mehrzahl handelt es sich um pädiatrisc­he, orthopädis­che oder chirurgisc­he Fälle. Um diese Bandbreite abdecken zu können, bedarf es einer breiten Ausbildung.

Warum sind Sie Hausarzt geworden?

Eigentlich aus Verlegenhe­it. Ich wollte immer Chirurg werden, habe aber Allergien auf die Gummihands­chuhe entwickelt. Also habe ich zunächst Innere Medizin gemacht und Orthopädie. Dann habe ich gemerkt, dass der Mensch ein sehr breites Spektrum an Krankhei- ten bekommen kann. So habe ich mich entschloss­en, in die Allge- meinmedizi­n zu gehen. Dann habe ich vor 35 Jahren hier in Randersack­er eine typische Landarztpr­axis übernehmen können und habe gesehen: Das ist das, was ich werden wollte. Ich mache es bis heute mit Spaß.

Sie haben eigentlich schon genug zu tun und engagieren sich zusätzlich für Ihre Kollegen. Warum?

Es war ein Schlüssele­rlebnis. 20 Jahre lang ging ich auf in meinem e s s t s s

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Dr. Dieter Geis

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