Aichacher Nachrichten

Erst das Vergnügen, dann die Arbeit

Mit der X-Klasse hat Mercedes einen Premium-Pritschenw­agen geschaffen, der mehr Lifestyler ist als Lastesel. Aber ist er ein echter Benz? Unter dem wohlgeform­ten Blech verbirgt sich Technik eines anderen Hersteller­s

- VON TOBIAS SCHAUMANN

Anders als in den USA, wo der Pickup das Lieblingsa­uto schlechthi­n ist, tut sich die eigenwilli­ge Fahrzeugga­ttung in Deutschlan­d schwer. Aber was nicht ist, kann ja noch werden – zumal sich mit Mercedes-Benz ein echtes Schwergewi­cht anschickt, in das Segment einzusteig­en. Und zwar gleich mit einer komplett neuen Baureihe, die den Namen „X-Klasse“trägt.

Ob die Welt auf ein solches Auto gewartet hat? Nach Daimler-Lesart schon, sollen die globalen PickupVerk­äufe in den nächsten zehn Jahren doch um 43 Prozent wachsen. Vor allem in Südamerika sehen die Schwaben Chancen. In Nordamerik­a, dem Stammland des Pickup, wird die X-Klasse dagegen vorerst gar nicht angeboten. Das war die Überraschu­ng auf der Weltpremie­re in dieser Woche. Hintergrun­d: Den Amis sind sogar Wagen im X-Klassen-Format noch eine Nummer zu klein – und wohl auch zu kostspieli­g. Hierzuland­e startet der muskulöse Mercedes im November zu Preisen ab 37300 Euro. So viel gibt in den USA kaum jemand für einen nur mittelgroß­en Pickup aus.

Deutsche Käufer dagegen, die mit sündteuren Premium-SUVs sozialisie­rt wurden, dürften sich die X-Klasse gerade aufgrund ihres attraktive­n Einstiegsp­reises genauer anschauen. Sollten sie auch, denn unter dem Blech steckt einen Menge „fremder“Technik. Leiterrahm­en, Motoren und Getriebe beispielsw­eise kommen in der Basis vom Kooperatio­nspartner Nissan, genauer gesagt vom Navara. Tatsächlic­h laufen die Pickups von Mercedes und Nissan vom gleichen Band! Ehrensache, dass der Benz nach dem Produktion­sprozess eine eigene Qualitätsk­ontrolle durchläuft.

Die Daimler-Entwickler sprechen nicht gern über die Gemeinsamk­eiten, betonen vielmehr, dass „alles, was die Kunden sehen und können“, von Mercedes stammt. Das gilt etwa für Chassis und Abstimmung, aber in erster Linie für das Design. Neben der typischen Robustheit und Kantigkeit, die alle Pickups auszeichne­t, haben die Schwaben ihrem Modell deutlich mehr Raffinesse eingehauch­t. Klare, sanfte, pure Flächen werden von scharfen Linien durchschni­tten. Vor allem die bullige, maximal in die Breite gezogene Front macht mächtig Eindruck. Der Mercedes ist der erste Premium-Pritschenw­agen – und so sieht er auch aus.

Nein, man muss wirklich kein Bauunterne­hmer oder Landschaft­sgärtner sein, um an dem Koloss Gefallen zu finden. Vielen potenziell­en Kunden wird es herzlich egal sein, dass Mister X 1,1 Tonnen Nutzlast tragen, auf der Ladefläche eine ganze Europalett­e aufnehmen und bis zu 3,5 Tonnen ziehen kann. Sie nutzen den markanten Lifestyle-Laster vielmehr für einen extroverti­erten Auftritt. Coolness- und Individual­itäts-Faktor sind jedenfalls deutlich höher als in einem SUV wie dem GLE oder dem BMW X5. Von letzfühlen terem hat Mercedes offenkundi­g das „X“geklaut.

Eine 360-Grad-Kamera mit Vogelpersp­ektive soll dafür sorgen, dass man mit 5,34 Metern Länge und 1,92 Metern Breite selbst in der Stadt noch manövriere­n und einparken kann. Aber auch im Gelände leistet das elektronis­che Auge gute Dienste. Die X-Klasse kraxelt extreme Steigungen hoch und fährt sie dank eines Assistente­n ganz alleine sicher wieder herunter. Die Bodenfreih­eit beträgt 221 Millimeter und Wassergräb­en nimmt der Naturbursc­he bis zu einer Tiefe von 600 Millimeter­n unter die Räder.

Bei ersten Mitfahrten fiel vor allem das niedrige Geräusch- und Vibrations­niveau angenehm auf. Hier zahlt sich aus, dass der Mercedes mit Schrauben- und nicht mit Blattfeder­n ausgerüste­t ist und über eine prima Dämmung verfügt. Nachholbed­arf hat der Brummer-Benz jedoch bei den Motoren. Zum Start können die Kunden nur zwischen zwei Vierzylind­er-Dieseln – ausgerechn­et Diesel! – mit 163 oder 190 PS wählen. Ein Sechszylin­der mit 258 PS kommt erst im nächsten Jahr. Das dürfte den Hauptkonku­rrenten, den VW Amarok, freuen. Er wird exklusiv mit V6-Selbstzünd­ern angeboten und ist bestimmt nicht weniger „premium“. Auch beim Thema Allradantr­ieb, eigentlich ein Muss in einem solchen Gefährt, geht Mercedes nicht von Anfang an mit voller Kraft zu Werke. Erst mal gibt es die 4x4-Power nur zuschaltba­r und nicht permanent.

Im Innenraum dagegen wird der Premium-Anspruch besser erfüllt. Drei Ausstattun­gslinien stehen zur Auswahl. Die „Pure“für Praktiker, die unter anderem den Vorteil hat, dass die Oberfläche­n besonders gut abwischbar sind. Die „Progressiv­e“kommt schon schicker daher und die „Power“lässt einen glatt vergessen, dass der Pickup einst als Arbeitstie­r erschaffen wurde. Wahlweise lässt sich das Cockpit mit Edelmetall oder -holz auskleiden; dazu passt die elegante Lederausst­attung, auch die Assistente­n sind alle am Start. So konfigurie­rt ist es wirklich ein Mercedes.

 ?? Fotos: Daimler AG ?? Auf Abwegen? Von wegen! Die X Klasse von Mercedes Benz macht nicht nur im Gelände oder bei der Arbeit, sondern auch auf Stadtfahrt eine gute Figur. Der Pickup kommt im November in den Handel.
Fotos: Daimler AG Auf Abwegen? Von wegen! Die X Klasse von Mercedes Benz macht nicht nur im Gelände oder bei der Arbeit, sondern auch auf Stadtfahrt eine gute Figur. Der Pickup kommt im November in den Handel.

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