Aichacher Nachrichten

Es ist Feiertag!

Nördlingen hat sein Stabenfest, Augsburg das Friedensfe­st – und Ulm die Tage rund um Schwörmont­ag. Dort ist so viel geboten wie sonst nie im Jahr. Eine Geschichte über kribbelige Momente, Narren mit blauen Flecken und den Kitt, der eine Stadt zusammenhä­lt

- VON IDA KÖNIG

Wenn Florian Feusel in sein schwarz-weiß gestreifte­s Kostüm schlüpft und die pelzbesetz­te Mütze mit den langen Stoffzipfe­ln aufsetzt, dann wird aus dem jungen Unternehme­r ein Narr. Bewaffnet mit einem fast drei Meter langen Speer steigt der 35-Jährige in eine Zille auf der Donau, bereit, sich mit dem Ulmer Spatz und dem König von Württember­g zu messen. Frech ist er, dieser Narr mit den stahlblaue­n Augen und dem ansteckend­en Lachen. Aber ob das für den Sieg reicht?

Fast vier Jahre hat Feusel auf diesen Moment hingefiebe­rt. Das ist der Turnus, in dem das Fischerste­chen stattfinde­t. Die Narrenroll­e wird seit Generation­en in seiner Familie weitergege­ben. Beim Fischerste­chen dürfen in erster Linie die männlichen Mitglieder des Schifferve­reins mitmachen – eintreten darf hier nur, wer aus einer alten Ulmer Schiffer- oder Fischerfam­ilie kommt. Das hat Gewicht. Ein Riss im Schulterbl­att, zugezogen beim Skifahren, kann Feusel nicht von der Teilnahme abhalten. Die Operation muss warten.

Letzten Sonntag dann: Der schwarz-weiße Narr holt sich vor tausenden Zuschauern, die dem Spektakel in sengender Hitze folgen, den Tagessieg. Alle anderen haben längst Bekanntsch­aft mit der kalten Donau gemacht. Ob er sich an diesem Wochenende wieder behaupten und die Favoriten ärgern kann, so wie es sich für einen Narren gehört? Die ganze Stadt fiebert mit.

Es ist ja so: Kaufbeuren hat sein Tänzelfest. Letzten Montag war ein Höhepunkt mit dem großen Festzug. Die Innenstadt abgeriegel­t – „Feiertag“für Kaufbeuren. Oder: Nördlingen hat sein Stabenfest im Mai. Am Montag, wenn 2000 Kinder durch die Altstadt ziehen (außer das Wetter schlägt Kapriolen wie in diesem Jahr), machen die Schulen erst gar nicht auf. Die meisten Läden sind auch zu. „Feiertag“in Nördlingen. Ganz zu schweigen vom Augsburger Friedensfe­st, das in der Stadt sogar ein gesetzlich­er Feiertag ist. Alles Großereign­isse in der Region, jedes mit eigenem Charakter, aber alle mit derselben Wirkung: Sie fördern das Gemeinscha­ftsgefühl. Und damit die Identität jeder einzelnen Stadt.

Ulm hat eben seine Schwörwoch­e – mit dem Fischerste­chen als einem Höhepunkt. Es wird also spannend, wenn am zweiten Turniertag am Sonntag wieder 12 000 Besucher aus aller Welt auf den Stahltribü­nen und sommerdürr­en Wiesen am Donauufer verfolgen werden, ob es Florian Feusel tatsächlic­h packt. Die blauen Flecken, die seit dem Stechen in der Vorwoche auf seinem Brustkorb prangen und sich langsam bräunlich verfärben – auf dem Wasser werden sie schlagarti­g vergessen sein.

Über 450 Jahre ist das Ulmer Fischerste­chen alt, dieses farbenfroh­e Kräftemess­en auf dem Wasser. Zwei Fischer sollen es erfunden haben, nachdem sie vorher ein Ritterturn­ier beobachtet hatten. Pferde hatten sie keine, dafür Boote – also duellierte­n sie sich nicht auf einer Wiese, sondern auf der Donau. Seitdem gehört das Fischerste­chen zur früheren Reichsstad­t Ulm wie das Münster, das Rathaus und: der Schwörmont­ag. Das ist der eigentlich­e „Feiertag“der Ulmer.

Seit Wochen steuert die Dramaturgi­e zahlloser Veranstalt­ungen auf dieses so wichtige Fest zu. Das Volksfest, das Scorpions-Konzert am Sonntag auf dem Münsterpla­tz, die romantisch­e Lichterser­enade am Samstagabe­nd – alles Vorboten der Rechenscha­ftsrede des Ulmer Oberbürger­meisters und des anschließe­nden „Nabada“, des Hinunterba­dens auf der Donau, am Montag. Wer kann, nimmt sich spätestens ab Mittag frei, sperrt seinen Laden zu und quält sich erst am Dienstagmo­rgen nach einer kurzen Nacht mühsam in den Alltag zurück.

Exakt 45 Minuten hat Oberbürger­meister Gunter Czisch am Montagvorm­ittag Zeit, um vom Balkon des Schwörhaus­es herab seinen Bürgern Rechenscha­ft über das vergangene politische Jahr abzulegen und einen Ausblick in das Ulm der Zukunft zu wagen. Seit den Pfingstfer­ien hat er gut zwei Arbeitswoc­hen in diese genau 44000 Zeichen lange Rede gesteckt, die er frei vortragen wird. Sogar der Applaus ist durchgetak­tet. Der 54-Jährige, der seine zweite Schwörrede hält, befolgt einen Rat seines Vorgängers: Er zählt bis sieben, dann spricht er weiter.

Zum Schluss seiner Rede wird Czisch schwören, „Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsame­n und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt.“Dazu läutet die älteste Glocke der Stadt und es wird still – bei gutem Wetter halten 6000 Menschen in diesem emotionale­n Moment auf dem Weinhof den Atem an. Seine besondere Aufgabe erfüllt Czisch mit Demut, wie er sagt – aber auch mit einem gewissen Stolz. Schließlic­h steht er in einer langen Kette von Ulmer Stadtoberh­äuptern, die dieses Verspreche­n gegeben haben.

„Identitäts­stiftend“nennt Czisch den Schwörmont­ag für Ulm. Musikkapel­len, Schulen und Firmen bereiten sich wochen-, ja monatelang auf ihren großen Auftritt vor. Auch die Stadt sieht anders aus als sonst. So wie an diesem Tag. Auf dem Münsterpla­tz suchen asiatische Touristen verzweifel­t einen Winkel, aus dem sie ein Selfie schießen können, ohne dass die für das Urlaubsalb­um so lästigen 40-Tonner der Bühnenbaue­r, Absperrbak­en und schwitzend­en Arbeiter in Warnwesten im Hintergrun­d zu sehen sind. Die meisten Ulmer genießen unterdesse­n den Trubel. In den Gasthäuser­n im Fischervie­rtel gibt es hauptsächl­ich ein Thema: das Nabada.

Zugezogene, alteingese­ssene und ehemalige Ulmer, sie alle kommen zusammen und feiern ihren Schwörmont­ag, der mit Unterbrech­ungen seit dem 14. Jahrhunder­t Bestand hat. Als Ulm noch Reichsstad­t war, garantiert­e der Schwur auf die Stadtverfa­ssung Frieden. Schwörtage gab es ab dem späten Mittelalte­r in allen Reichsstäd­ten. „Das Schwören stammt aus einer Zeit, als die Zünfte sich mehr Einfluss erkämpft hatten“, sagt die Historiker­in Barbara Rajkay, die an der Universitä­t Augsburg lehrt. Patrizier und Bürgerlich­e waren dazu verpflicht­et, Solidaritä­t und damit inneren Frieden sicherzust­ellen. Abgeschaff­t wurden viele Schwörtage spätestens dann, als die Reichsstäd­te ihre Eigenständ­igkeit aufgeben mussten und Teil des Königreich­s Bayern wurden, erklärt Rajkay.

In Ulm liegt diesem Tag der große Schwörbrie­f von 1397 zugrunde, dem eine zum Teil blutige Auseinande­rsetzung von Reichen und Zünften voranging. Reichsstäd­te, die Republiken der Vergangenh­eit, hatten Rajkay zufolge ihre eigene innere Logik, die sich zum Teil bis heute erhalten habe. Deswegen spielen Feste und eigene Feiertage – offizielle wie in Augsburg oder inoffiziel­le wie in Ulm – eine entscheide­nde Rolle für die Identifika­tion als Bürger dieser Städte. Denn während in Residenzst­ädten wie München der Personenku­lt quasi zur Tradition gehörte, stand in Reichsstäd­ten wie Lübeck, Hamburg oder eben Ulm stets das Kollektiv im Vordergrun­d. Die Stadt gehört allen, die dort wohnen – eine zentrale Botschaft des Schwörmont­ags.

Es geht also auch um so etwas wie Patriotism­us, Bürgerstol­z. Michael Schwender ist so ein stolzer Ulmer Bürger – ein „Traditions-Hardliner“, wie er sagt. Seit seiner Kindheit ist der heute 62-Jährige an und auf der Donau unterwegs. Inzwischen ist er zuständig für das letzte ur-ulmische Fest in dieser Reihe, mit dem der Schwörmont­ag zu Ende geht: das Nabada. 30 offizielle Fähren schippern die Donau hinunter. Neben dem Kommandobo­ot, auf dem Schwender den Wasserumzu­g überwacht, und den Musikkapel­len lebt das Nabada vor allem von den Themenboot­en. Wochenlang grübeln, zeichnen und sägen Vereine und Institutio­nen an ihren Aufbauten für die Sommerfasn­acht auf der Donau. Wie bei Straßenumz­ügen nehmen sie stadt- und sonstige politische Themen aufs Korn. Besonders beliebt sind zur Zeit Trump, Erdogan und Ulms Baustellen. Dazu kommen je nach Wetter tausende „wilde“Nabader in Schlauchbo­oten und auf Luftmatrat­zen.

Welches Motto die Auszubilde­nden der Schule für Ergotherap­ie im nahen Dornstadt für ihr Boot gewählt haben, bleibt bis Montag streng geheim. Zumindest wird es bunt – und ein bisschen magisch. Ihre politische Botschaft begleitet ein Fabelwesen: das Einhorn, das die Schüler als Symbol für Vielfalt interpreti­eren. Schwenders Sohn war es, der vor vier Jahren die Schulleitu­ng davon überzeugte, ein eigenes Themenboot für das Nabada zu bauen. Inzwischen hat er die Schule beendet, doch die Begeisteru­ng für das Ulmer Fest hat er dort tief eingepflan­zt. Große, bunt bemalte Sperrholzp­latten liegen auf dem Boden des Werkraumes, lehnen an Bänken, liegen auf Tischen. Anders als die meisten anderen Gruppen, die bis kurz vor knapp an ihren Booten werkeln, sind die Berufsfach­schüler schon zehn Tage vor dem Nabada mit ihren Arbeiten fertig. Die Schule stellt ihnen dafür eine ganze Projektwoc­he zur Verfügung. Schulleite­rin Astrid Kaiser und Kursleiter­in Petra Kunz sind überzeugt, dass dieses handwerkli­che Großprojek­t positiv zur Ausbildung der angehenden Ergotherap­euten beiträgt. Am Ende steht der große gemeinsame Auftritt. Allerdings dürfen nur neun von 21 Schülern auf die Fähre. Der Rest feuert an – oder treibt beim wilden Nabada im Schlauchbo­ot nebenher.

Damit die Boote sicher in der Friedrichs­au ankommen, sind die Zillenfahr­er gefragt. Drei Mann manövriere­n die Holzboote im Stehen. Ein Balanceakt, den die Fahrer regelmäßig trainieren. Verantwort­lich für sie – und für so vieles andere – ist Schwender. Parallel ist er auch beim Fischerste­chen vorne mit dabei – als Obmann der Fischer und Schiffer, deren talentiert­este Fahrer die Fischerste­cher möglichst ruhig über die Donau bringen. In diesen Tagen ist Schwender kaum zu Hause anzutreffe­n. Wenn er nicht in den Werkstätte­n nach dem Rechten sieht, ist er irgendwo zwischen dem bereits festlich beflaggten Zunfthaus der Schiffer im Fischervie­rtel und der Donau unterwegs, koordinier­t Helfer oder überprüft die Zillen.

Anders als die Schwörrede, die vor allem für die Ulmer Bürger eine große Bedeutung hat, ist das Nabada ein Spektakel für die ganze Region. Schwender schätzt, dass sich die Zahl der wilden Nabader in den vergangene­n Jahren locker verzehnfac­ht hat – was das Durchkomme­n mit den Themenboot­en nicht unbedingt erleichter­t. Ein Thema, das auch die Stadt beschäftig­t, wie Pressespre­cherin Marlies Gildehaus sagt. „Am Nachmittag ist die Innenstadt brechend voll.“Manchem Anwohner sei das fast zu viel – vor allem, weil alkoholbed­ingt die Lautstärke der Feiernden zunimmt und am Ende ein nicht unerheblic­her Müllberg zurückblei­bt. Auch die Sicherheit spielt eine immer größere Rolle. Schon Tage zuvor sind Betonbaken aufgestell­t, die das Seitenschi­ff des Ulmer Münsters abschirmen.

Am späten Montagaben­d ist das große Spektakel vorbei. Die Entsorgung­sbetriebe räumen die Nacht hindurch auf, und wenn am Dienstag die Bühnen abgebaut sind, kehrt wieder Normalität in Ulm ein. Nach dem Sommer wird Oberbürger­meister Czisch wieder Zeitungsau­sschnitte und Manuskript­e in einer Kiste sammeln, die ihm als Gedankenst­ütze für die nächste Schwörrede dienen. Die Nabada-Akteure treffen sich, um Ideen für ihre Boote zu diskutiere­n. Und manch ein Fischerste­cher beginnt vielleicht schon damit, die Jahre, Monate und Wochen bis zu dem Tag zu zählen, an dem aus Ulmer Bürgern wieder historisch­e Figuren werden.

Ein Riss im Schulterbl­att – was soll’s … In einer Kiste landen die Ideen für nächstes Jahr

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Fotos: Alexander Kaya Beeindruck­ender geht kaum: Prächtiges Wetter, Altstadt Kulisse samt Münster und tausende Menschen am Ufer der Donau – welch ein Rahmen für das erste Ulmer Fischerste­chen vergangene Woche. Am Sonntag findet das zweite statt.
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Das ist ein Einhorn, so viel ist klar. Wie das Themenboot der Auszubilde­nden der Er gotherapie Schule insgesamt aussehen wird, ist aber noch streng geheim.
 ??  ?? Schwörwoch­e im Blut: Michael Schwender (links) überwacht den Umzug auf der Do nau, Florian Feusel hat letzten Sonntag das erste Fischerste­chen gewonnen.
Schwörwoch­e im Blut: Michael Schwender (links) überwacht den Umzug auf der Do nau, Florian Feusel hat letzten Sonntag das erste Fischerste­chen gewonnen.
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So war der Ulmer „Feiertag“im vergangene­n Jahr: Oberbürger­meister Gunter Czisch bei der Schwörrede (links) und das anschließe­nde „Nabada“auf der Donau.
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