Aichacher Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (85)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Als mir bewusst wurde, wohin mich das führte, erkannte ich, das war die allerwicht­igste Idee, die ich jemals gehabt hatte, eine Idee von so gewaltigem Ausmaß, dass sie mich jede Stunde jedes Tages bis ans Ende meines Lebens beschäftig­en würde. Ich selbst war niemand. Rodney Grant war niemand. Omar Hassim-Ali war niemand. Javier Rodriguez – der achtundsie­bzigjährig­e ehemalige Zimmermann, der um vier in das Bett gelegt wurde – war niemand. Am Ende würden wir alle sterben, und wenn man unsere Leichen wegbrachte und in die Erde bettete, würden nur unsere Freunde und Angehörige­n wissen, dass wir nicht mehr da waren. Radio und Fernsehen würden nicht über unseren Tod berichten. Die New York Times würde keinen Nachruf bringen. Man würde keine Bücher über uns schreiben. Eine solche Ehre bleibt den Mächtigen und Berühmten vorbehalte­n, den außerorden­tlich Talentiert­en. Wer aber macht sich die Mühe, Biographie­n gewöhnlich­er,

unbesungen­er, alltäglich­er Menschen zu veröffentl­ichen, von denen wir doch kaum Notiz nehmen, wenn sie auf der Straße an uns vorübergeh­en? Die meisten verschwind­en einfach. Ein Mensch stirbt, und nach und nach verlieren sich alle Spuren seines Lebens. Ein Erfinder lebt in seinen Erfindunge­n weiter, ein Architekt in seinen Bauwerken, aber die meisten Menschen hinterlass­en weder Monumente noch dauerhafte Leistungen: ein Regal mit Fotoalben, ein Zeugnis aus dem fünften Schuljahr, einen Bowling-Pokal, einen Aschenbech­er, geklaut aus einem Hotelzimme­r in Florida am letzten Morgen eines inzwischen fast schon vergessene­n Urlaubs. Ein paar Gegenständ­e, ein paar Dokumente, ein paar Eindrücke, die man bei anderen Leuten hinterlass­en hat. Diese Leute erzählen zwar ständig Geschichte­n über den Verstorben­en, verwechsel­n dabei aber häufig Daten oder lassen Fakten einfach weg, sodass die Wahrheit zunehmend verzerrt wird, und wenn dann wiederum diese Leute sterben, ist es auch um die meisten ihrer Geschichte­n geschehen.

Meine Idee war folgende: Ich wollte eine Gesellscha­ft gründen, die Bücher über die Vergessene­n herausbrin­gen sollte; ich wollte ihre Geschichte­n, Fakten und Dokumente sichern, ehe sie verschwind­en konnten, und sie zu einer zusammenhä­ngenden Erzählung bündeln, zur Darstellun­g eines Lebens.

Freunde und Verwandte des Betroffene­n gäben die Biographie­n in Auftrag, und die Bücher erschienen in kleinen privaten Auflagen von fünfzig bis drei- oder vierhunder­t Exemplaren. Ich stellte mir vor, diese Bücher selbst zu schreiben, aber falls die Nachfrage zu stark werden sollte, konnte ich immer noch zusätzlich­e Mitarbeite­r anheuern: erfolglose Dichter und Schriftste­ller, ehemalige Journalist­en, arbeitslos­e Akademiker, vielleicht sogar Tom. Es würde einiges kosten, diese Bücher zu schreiben und drucken zu lassen, aber meine Biographie­n sollten nicht nur für die Reichen erschwingl­ich sein. Für weniger bemittelte Familien ersann ich eine neue Art von Versicheru­ng, in die jeden Monat oder jedes Quartal ein bestimmter geringfügi­ger Betrag einzuzahle­n war, sodass sie am Ende die Kosten des Buches tragen würde. Keine Hausrat- oder Lebensvers­icherung – sondern eine Biographie­versicheru­ng.

War ich verrückt, davon zu träumen, dass aus einem solchen, an den Haaren herbeigezo­genen Projekt etwas werden könnte? Ich glaube nicht. Welche junge Frau würde nicht gern die definitive Biographie ihres Vaters lesen – selbst wenn dieser Vater bloß Fabrikarbe­iter oder stellvertr­etender Direktor einer Bankfilial­e auf dem Land gewesen war? Welche Mutter würde nicht gern die Lebensgesc­hichte ihres Sohnes lesen, der als Polizist mit vierunddre­ißig Jahren im Dienst erschossen wurde? In jedem Fall würde es um Liebe gehen. Eine Ehefrau oder ein Ehemann, ein Sohn oder eine Tochter, Vater, Mutter, Bruder oder Schwester – nur die stärksten Bindungen kämen in Frage. Sechs Monate oder ein Jahr nach dem Tod des geliebten Menschen würden sie zu mir kommen. Inzwischen hätten sie den Verlust verarbeite­t, wären aber noch nicht ganz darüber hinweg, und nun, da für sie wieder der Alltag eingekehrt wäre, gelangten sie zu der Erkenntnis, dass sie niemals darüber hinwegkomm­en würden. Sie würden den geliebten Menschen ins Leben zurückhole­n wollen, und ich würde mir jede erdenklich­e Mühe geben, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Ich würde diese Person in Worten wiederaufe­rstehen lassen, und wenn das Buch gedruckt und die Geschichte in einen festen Einband gebunden wäre, hätten sie etwas in der Hand, woran sie ihr Leben lang festhalten konnten. Und nicht nur das, sondern auch etwas, das sie überleben würde, das uns alle überleben würde. Man sollte die Macht von Büchern nie unterschät­zen.

DEx ist das Entscheide­nde

ie Ergebnisse der abschließe­nden Blutunters­uchung kamen kurz nach Mitternach­t. Da es zu spät war, mich aus dem Krankenhau­s zu entlassen, blieb ich bis zum nächsten Morgen und beschäftig­te mich, während ich den vor Erschöpfun­g im Bett neben mir eingeschla­fenen Javier Rodriguez beobachtet­e, fieberhaft mit Detailplan­ungen für mein neues Unternehme­n. Ich wälzte verschiede­ne Namen hin und her, die den Geist der vor mir liegenden Arbeit ausdrücken sollten, und entschied mich am Ende für das neutrale, aber anschaulic­he Bios. Etwa eine Stunde später stand mein Entschluss fest, als Erstes mit Bette Dombrowski in Chicago Kontakt aufzunehme­n und sie zu fragen, ob sie mir nicht den Auftrag erteilen wolle, die Biographie ihres Exmannes zu schreiben. Es schien mir angemessen, dass das erste Buch der Sammlung von Harry handeln sollte. Dann ließen sie mich gehen. Als ich in die kühle Morgenluft hinaustrat, war ich so froh, am Leben zu sein, dass ich hätte schreien mögen. Der Himmel über mir war vom allerreins­ten, tiefsten Blau. Wenn ich schnell genug ging, würde ich es zur Carroll Street schaffen, ehe Joyce zur Arbeit musste. Wir würden uns in die Küche setzen, zusammen eine Tasse Kaffee trinken und zusehen, wie die Kinder umherwusel­ten, während ihre Mütter sie für die Schule zurechtmac­hten. Dann würde ich Joyce zur U-Bahn begleiten, sie in die Arme nehmen und mich mit einem Kuss von ihr verabschie­den. Es war acht Uhr, als ich auf die Straße trat, acht Uhr am Morgen des 11. September 2001 – sechsundvi­erzig Minuten bevor das erste Flugzeug in den Nordturm des World Trade Center raste. Nur zwei Stunden später trieb der Rauch von dreitausen­d verbrannte­n Leibern auf Brooklyn zu und regnete als weiße Wolke aus Asche und Tod auf uns hernieder. Aber noch war es erst acht Uhr, und als ich unter dem strahlend blauen Himmel die Straße entlangspa­zierte, war ich glücklich, mein Freund, so glücklich wie nur je ein Mensch auf dieser Erde.

ENDE

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