Leben wir im Lehrstellen Eldorado?
Auszubildende sind die Fachkräfte von morgen. Schon heute fehlt aber Personal. Der Chef der bayerischen Arbeitsagenturen erklärt, wie der Mangel behoben werden kann
Herr Holtzwart, wirft man einen Blick auf die jüngsten Zahlen der Bundesagentur, könnte man meinen, Bayerns Jugend lebt in einem LehrstellenEldorado. Es gibt 22000 Stellen mehr als Bewerber. Stimmt der Eindruck? Ralf Holtzwart: Eldorado ist hochgegriffen. Aber der Ausbildungsstellenmarkt in Bayern ist ausgezeichnet. Das liegt daran, dass die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe und der Jugendlichen ungebrochen hoch ist. Jedes Jahr verlassen rund 120 000 Absolventen die allgemeinbildenden Schulen. Knapp 80000 möchten eine Ausbildung beginnen. Der Rest besucht weiterführende Schulen oder studiert.
Es heißt dabei immer: Alle möchten studieren und niemand Azubi sein. Holtzwart: Die Gruppe der jungen Menschen, die eine Ausbildung beginnen, speist sich in erster Linie aus denen, die einen Hauptschulabschluss haben. Das sind etwa 30 000 Jugendliche. Fast 40 000 Jugendliche haben die Mittlere Reife und rund 10 000 eine Hochschulreife. Aber ich kann jungen Menschen, die studieren wollen, nur raten, das zu tun. Grundsätzlich gilt: je höher die Berufsausbildung, desto geringer das Risiko, arbeitslos zu werden. Bei Menschen ohne Schulabschluss liegt die Arbeitslosenquote in Bayern bei rund elf Prozent – bei Akademikern bei 1,9 Prozent. Eine gute Ausbildung ist die beste Arbeitslosenversicherung.
Es gibt Kampagnen, mit denen um Lehrlinge geworben wird. Dennoch tun sich viele Betriebe schwer, Auszubildende zu finden. Warum? Holtzwart: Das Handwerk beispielsweise bildet viel aus, kann die jungen Menschen aber nicht halten, weil es andere Entlohnungsstruktu- ren hat und sich in der Industrie mehr verdienen lässt. Viele wechseln vom Handwerk in die Industrie.
Wollen junge Menschen also nur viel Geld verdienen?
Holtzwart: Nein. Jeder muss seinen Lebensunterhalt bestreiten. Und in unserer Gesellschaft ist ein hohes Einkommen ein Zeichen von Status. Aber beides muss zusammenpassen: die persönliche Neigung und die beruflichen Perspektiven. Man kann heute ja nicht sagen, wie ein Beruf sich in zwanzig Jahren entwickelt. In manchen Sparten sind die Entwicklungschancen sehr gut – etwa in der Produktion, im Metall- und Elektrobereich, oder bei Zimmerleuten und Installateuren.
Und trotzdem wollen alle Buben KfzMechatroniker und alle Mädchen Bürokauffrau werden.
Hotzwart: Das stimmt. Es gibt etwa 330 Lehrberufe. Ein Großteil der Jugendlichen will davon zehn Berufe lernen. Auf der anderen Seite bieten Firmen die Mehrheit der Stellen im Bereich dieser Top-Ten-Berufe an. Das heißt: Ja, wir haben eine starke Konzentration auf gewisse Lehrberufe, aber die werden auch am häufigsten gesucht.
Sind denn die Ansprüche der Arbeitgeber gesunken, weil Fachkräfte fehlen? Holtzwart: Die Anforderungen der Arbeitgeber verändern sich. Im Rahmen der Automatisierung und Digitalisierung werden sie höher. Das heißt, die körperliche Arbeitsleistung nimmt ab, dafür sind andere Fähigkeiten gefragt. Deshalb müssen die jungen Menschen bereits in der Schule auf die intellektuellen Anforderungen vorbereitet werden, damit sie Schritt halten können.
Die Digitalisierung verändert ja nicht nur die Ausbildung. Sie macht es auch denen schwer, die lange arbeitslos sind. Holtzwart: Die große Aufgabe für die bayerischen Arbeitsagenturen be- steht darin, der Dynamik der bayerischen Wirtschaft standzuhalten. Wir haben jedes Jahr rund eine Million Menschen, die arbeitslos werden und wieder Beschäftigung finden. Sie sind im Durchschnitt gut 100 Tage arbeitslos. Es gibt welche, die länger brauchen. Um sie zu vermitteln, müssen wir in die Qualifizierung investieren.
Das heißt?
Holtzwart: Von den rund 220 000 Arbeitslosen in Bayern sind 100000 ohne Schulabschluss. Sie suchen in der Regel einen Job auf Helferniveau. Aber die Wirtschaft sucht nur etwa 20 000 Helfer – und es werden weniger. Dafür fehlen 100000 Fachkräfte. Deshalb liegt unserer Schwerpunkte auf der Qualifizierung von Helfern zu Fachkräften.
Die Wirtschaft braucht Fachkräfte, schließlich gibt es einen Job-Boom. Gilt der für alle Branchen? Holtzwart: In Bayern trägt vor allem der Handel, das Verarbeitende Gewerbe und das Gesundheits- und Sozialwesen zu dem Boom bei. In Schwaben ist es das Produktionsgewerbe. Wir haben momentan 5,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, das ist in der Tat die höchste Zahl seit Juni 1999.
Gleichzeitig fallen durch die Digitalisierung Stellen weg. Kann das Beschäftigungsniveau so hoch bleiben? Holtzwart: Schauen Sie mal in die Vergangenheit. Was waren da die wichtigsten Logistik-Berufe? Der Schröter, der Küfner und der Kutscher. Der Schröter hat die Fässer im Keller ein- und ausgelagert. Der Küfner hat die Fässer gemacht. Nur der Kutscher hat halbwegs überlebt. Er fährt heute LKW. Wir haben schon immer große Veränderungen. Berufe werden wegfallen – ja. Es entstehen aber auch neue. Und die Digitalisierung hat positive Seiten. Denn durch den demografischen Wandel werden die Beschäftigten immer älter. Sie können vielleicht nicht mehr so zupacken, müssen das aber auch nicht, weil eine Maschine sie unterstützt.
Eine Ausbildung ist die beste Arbeitslosenversicherung
Berufe wandeln sich schon immer – und das bleibt so
Neben Ausbildung und der Weiterqualifizierung von Hilfskräften hoffen Arbeitgeber, unter den Flüchtlingen Fachkräfte zu finden. Ist diese Hoffnung begründet?
Holtzwart: Wenn wir von Ausländern generell sprechen, dann unbedingt. In Bayern sind mehr als zehn Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Ausländer – 680000 an der Zahl. Und insgesamt leben nur 62 000 arbeitslose Ausländer in Bayern, Geflüchtete mitgezählt. Das ist nicht dramatisch. Wobei der Großteil der Ausländer aus der EU kommt. Ich glaube aber, dass bei den Geflüchteten viele dabei sind, die mittel- und langfristig einen Beitrag leisten können. Die Frage ist nur, wer darf einen Beitrag leisten? Weil unter allen, die könnten, ist ja nur ein Teil, der darf.
Bräuchten wir eine klügere Zuwanderungspolitik?
Holtzwart: Wenn es uns gelingt, dass die bayerische Wirtschaft weiter wächst, dann ist das fantastisch. Ich halte es für bereichernd, wenn Menschen aus verschiedenen Kulturen und mit entsprechender Bildung gemeinsam an Projekten arbeiten. Da kommen wir um eine gute Zuwanderung nicht herum. Integration ist keine Frage der Herkunft, sondern von Erziehung, Bildung und Ausbildung.
ORalf Holtzwart ist seit 2016 Chef der Bundesagentur für Arbeit in Bayern. Er hatte diesen Posten von 2010 bis 2014 schon einmal inne. Dann ging er für zwei Jahre nach Brüssel als Berater der EU Kommission.