Da wird sich nicht nur geküsst, sondern ergossen
Zum Abschluss wird es deftig. Dirk Heißerer liest Oskar Maria Graf. Ja, der Mensch ist Trieb, also soll er’s leben
„Mehr Sexualität, die Herrschaften!“, lautet die Forderung ans Publikum am letzten Abend der Reihe „Literatur im Biergarten“für diesen Sommer. Unschwer an dem Motto zu erkennen: Oskar Maria Graf ist Thema, schließlich stand dieses Jahr am 28. Juli der 50. Todestag des selbst ernannten Provinzschriftstellers an. Provinz ist übrigens nur als halbe Untertreibung seiner Schöpfungsgabe zu verstehen, der Provinzler nämlich ist lebendig in der Stadt wie auf dem Land. Ein Mischwesen, das sich innerhalb beider Gesellschaftsund Vorbehaltsräume einzugliedern, aber sich nicht unterzuordnen weiß. So einer war Graf und so verstand er sich. Unangepasst und, um ein Modewort zu verwenden, das ihm sicherlich zuwider gewesen wäre, authentisch.
Von dieser untypischen Literatenfigur, seinem Leben und besonders seinen Texten erzählt Dr. Dirk Heißerer, Verfasser des literarischen Spaziergangs „Wo die Geister wandern“und ein ausgewiesener Kenner des Autors. Darum gleich zu Beginn seine Vorwarnung: Auch wenn man beim ersten Lesen meine, Graf erzähle ein paar zotige Anekdoten, wer genau hinhorche an diesem Abend, stelle fest, „es geht bei Graf um das sinnfällige Beispiel“. Es bedarf einer Auseinandersetzung mit dem Dahinter, welches oft ein doch bitteres ist und vielleicht nur durch den vordergründigen, deftig gewürzten Witz erträglich scheint.
Heißerer beschreibt, wie Graf zum Schriftsteller wurde, und als er es endlich war, gleich darauf ausrief „Verbrennt mich!“, weil er es als große Demütigung empfand, ausgerechnet zu den Autoren zu gehören, die von den Nazis nicht verbrannt, sondern stattdessen auf die sogenannte „weiße Autorenliste“gesetzt wurden.
Ein bisschen Verbal-Voyeurismus kommt aber schon auf, wenn Heißerer die zotigen Aphorismen und kurzen Erzählungen des Autors liest. Wann gibt es die nächste SexPosse, wann wird’s schmutzig? Da kommt im Biergarten bereits vor der eigentlichen Pointe ungeduldiges Gekicher auf. Es ist halt so: Sowie man auf aufblitzende Nacktheit schauen muss, so hört man eben auch drauf. Und das machte Graf immer Spaß, die ungenierte Vorführung der vom Trieb gegängelten „Luder“, die wir alle sind. Graf zu lesen ist Entblößung. Da wird sich nicht nur geküsst, sondern ergossen. Und das mit einem Hoch auf die Natürlichkeit. Ja, der Mensch ist Trieb, also soll er’s leben.
Blickt man sich während Heißerers Vortrag im Publikum um, erkennt man darüber nicht nur Amüsement, vereinzelt auch den ein oder anderen, der über Passagen den Kopf schüttelt. Gerade unter den Jüngeren. Vielleicht ist man sich nicht einig, ob es sich noch um Literatur oder altbackenen Herrenwitz handelt, wenn Dirk Heißerer die Geschichte der Reinlochner-Zenzl liest. Eine solche Lesart aber tut dem Autor unrecht. Oskar Maria Graf macht sich über die Sexualität beider Geschlechter lustig, nicht aus Boshaftigkeit, sondern um über die gemeinsame Überforderung mit sich, seinem Trieb und seinem Menschsein schmunzeln zu dürfen, gerade wenn das manchmal schwerfällt. Auch das weiß Graf. Der junge Schriftsteller schrieb nach seiner ersten sexuellen Erfahrung: „Ich tappte in eine Verlassenheit hinein und sie blieb und blieb.“
Dirk Heißerers Vorträge aus dem „Bayrischen Dekameron“sowie anderen Anzüglichkeiten begleiten an diesem Abend René Haderer (Bass) und Tom Jahn (Keyboard) mit einer Mischung aus Swing und Jazz, die in ihrer scheinbaren Leichtigkeit eine wunderbare Untermalung zu Grafs Texten bieten.
Ein gelungenes Finale für die diesjährige Reihe. Übrigens kann „Literatur im Biergarten“, von der Buchhandlung am Obstmarkt organisiert, 2018 bereits das 30-jährige Bestehen feiern.