„Viele Einzelpersonen häufen unglaubliche Summen an und verändern dann die gesamte Welt.“
In den 1980er Jahren haben Sie einmal gesagt, dass Sie ein schlechtes Gewissen hätten, weil Sie damals 250 000 Mark im Jahr verdienten. Inzwischen werden im Profi-Fußball ganz andere Summen aufgerufen. Was sagt Ihr Gewissen heute?
Lienen: Ich habe damals gesagt, dass man ein schlechtes Gewissen bekommen könnte. Natürlich ist es nicht gerecht, was im Fußball verdient wird. Aber das beschränkt sich ja nicht nur auf den Fußball, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Frage: Wie organisiere ich das Wirtschaften? Was lasse ich zu, was lasse ich nicht zu? Diese Diskussion um den Fußball herum geht für mich am Kern der ganzen Geschichte vorbei. Wenn wir wollen, dass unsere Gesellschaft gerechter wird, müssen wir die Ressourcen besser und gerechter verteilen. Im Moment passiert ein ungezügelter Raubtierkapitalismus. Viele Einzelpersonen häufen unglaubliche Summen an und verändern dann die gesamte Welt – bis in unseren Fußball hinein, was wir gerade sehen. Diese Menschen, denen das Geld an den Ohren herausquillt, beeinflussen alle Lebensbereiche in die falsche Richtung und zerstören unsere Umwelt.
1985 sind Sie in Nordrhein-Westfalen im Wahlkampf angetreten – auf Platz sechs der linken Friedensliste. Wie waren damals die Reaktionen des Vereins und der Spielerkollegen?
Lienen: Ich hatte ja nicht die Absicht, in den Düsseldorfer Landtag einzuziehen. Es ging einfach darum, die Anliegen der Friedensbewegung in einen Wahlkampf einzubringen. Deswegen wurde diese Friedensliste gegründet.
Auf dieser Liste standen auch handfeste Kommunisten.
Lienen: Ich weiß, dass Sie in Bayern leben und dort scheinbar ein Kommunisten-Trauma haben (lacht). Damals war es wirklich so, dass jeder Kommunist, der auf der Bildfläche erschien, zu einem Schreckgespenst wurde. Ich habe unzählige Kommunisten live erlebt und zu 99 Prozent waren das ehrliche Leute, die mit jeder Faser ihres Körpers etwas an dieser Gesellschaft verändern wollten. Das waren diejenigen, die sich am aktivsten in der Friedensbewegung engagiert haben, die morgens um 6 Uhr dagestanden sind und das nächste Spiel vorzubereiten und das vergangene aufzuarbeiten. Das heißt: In der Zeit, in der wir am Tag zusammen sind, kann ich mich nicht hinsetzen und politische Diskussionen führen. In einer Anwaltskanzlei diskutieren die auch nicht von morgens bis abends politische Dinge – und schon gar nicht öffentlich. Das passiert nach der Arbeit und das gilt auch für die Spieler. Sie machen viel mehr Dinge, als nur zu trainieren. Gerade hier in St. Pauli unterstützen sie viele soziale und ökologische Projekte.
Der Bundestagswahlkampf plätschert momentan eher dahin. Wie intensiv verfolgen Sie das Geschehen?
Lienen: Man hat im Moment gar nicht das Gefühl, dass es einen Wahlkampf gibt. Es wird auch so transportiert, als wenn alles schon klar wäre. Es fehlt der Aufruf, dass alle Wahlberechtigten die Verantwortung haben, unsere Gesellschaft mitzugestalten. Momentan lehnen sich alle zurück und beobachten entspannt, was da passiert. Es geht aber nicht nur darum, wählen zu gehen. Es geht natürlich auch darum, welche Parteien gewählt werden. Es geht darum, Parteien zu wählen, die unsere freiheitlich demokratische Grundordnung schützen, die das verteidigen, was wir mühsam erkämpft haben. Wofür Millionen Menschen ihr Leben gelassen haben. Wir müssen den Rechtsruck, den unsere Gesellschaft erlitten hat, korrigieren. ⓘ
Ewald Lienen, 63, wurde 1953 im ostwestfälischen Liemke geboren. Lienen war von 1974 bis 1992 Profi Fußballer. Mit Mönchengladbach wur de er 1978 Vizemeister, 1979 gewann er den UEFA Pokal. Als Trainer arbeitete er in der Bundesliga, aber auch in Spanien und Griechenland. Aktuell ist er Techni scher Direktor beim Zweitliga Klub
St. Pauli.