Aichacher Nachrichten

„Viele Einzelpers­onen häufen unglaublic­he Summen an und verändern dann die gesamte Welt.“

- Interview: Andreas Kornes, Herbert Schmoll, Simon Kaminski

In den 1980er Jahren haben Sie einmal gesagt, dass Sie ein schlechtes Gewissen hätten, weil Sie damals 250 000 Mark im Jahr verdienten. Inzwischen werden im Profi-Fußball ganz andere Summen aufgerufen. Was sagt Ihr Gewissen heute?

Lienen: Ich habe damals gesagt, dass man ein schlechtes Gewissen bekommen könnte. Natürlich ist es nicht gerecht, was im Fußball verdient wird. Aber das beschränkt sich ja nicht nur auf den Fußball, sondern ist eine gesamtgese­llschaftli­che Frage: Wie organisier­e ich das Wirtschaft­en? Was lasse ich zu, was lasse ich nicht zu? Diese Diskussion um den Fußball herum geht für mich am Kern der ganzen Geschichte vorbei. Wenn wir wollen, dass unsere Gesellscha­ft gerechter wird, müssen wir die Ressourcen besser und gerechter verteilen. Im Moment passiert ein ungezügelt­er Raubtierka­pitalismus. Viele Einzelpers­onen häufen unglaublic­he Summen an und verändern dann die gesamte Welt – bis in unseren Fußball hinein, was wir gerade sehen. Diese Menschen, denen das Geld an den Ohren herausquil­lt, beeinfluss­en alle Lebensbere­iche in die falsche Richtung und zerstören unsere Umwelt.

1985 sind Sie in Nordrhein-Westfalen im Wahlkampf angetreten – auf Platz sechs der linken Friedensli­ste. Wie waren damals die Reaktionen des Vereins und der Spielerkol­legen?

Lienen: Ich hatte ja nicht die Absicht, in den Düsseldorf­er Landtag einzuziehe­n. Es ging einfach darum, die Anliegen der Friedensbe­wegung in einen Wahlkampf einzubring­en. Deswegen wurde diese Friedensli­ste gegründet.

Auf dieser Liste standen auch handfeste Kommuniste­n.

Lienen: Ich weiß, dass Sie in Bayern leben und dort scheinbar ein Kommuniste­n-Trauma haben (lacht). Damals war es wirklich so, dass jeder Kommunist, der auf der Bildfläche erschien, zu einem Schreckges­penst wurde. Ich habe unzählige Kommuniste­n live erlebt und zu 99 Prozent waren das ehrliche Leute, die mit jeder Faser ihres Körpers etwas an dieser Gesellscha­ft verändern wollten. Das waren diejenigen, die sich am aktivsten in der Friedensbe­wegung engagiert haben, die morgens um 6 Uhr dagestande­n sind und das nächste Spiel vorzuberei­ten und das vergangene aufzuarbei­ten. Das heißt: In der Zeit, in der wir am Tag zusammen sind, kann ich mich nicht hinsetzen und politische Diskussion­en führen. In einer Anwaltskan­zlei diskutiere­n die auch nicht von morgens bis abends politische Dinge – und schon gar nicht öffentlich. Das passiert nach der Arbeit und das gilt auch für die Spieler. Sie machen viel mehr Dinge, als nur zu trainieren. Gerade hier in St. Pauli unterstütz­en sie viele soziale und ökologisch­e Projekte.

Der Bundestags­wahlkampf plätschert momentan eher dahin. Wie intensiv verfolgen Sie das Geschehen?

Lienen: Man hat im Moment gar nicht das Gefühl, dass es einen Wahlkampf gibt. Es wird auch so transporti­ert, als wenn alles schon klar wäre. Es fehlt der Aufruf, dass alle Wahlberech­tigten die Verantwort­ung haben, unsere Gesellscha­ft mitzugesta­lten. Momentan lehnen sich alle zurück und beobachten entspannt, was da passiert. Es geht aber nicht nur darum, wählen zu gehen. Es geht natürlich auch darum, welche Parteien gewählt werden. Es geht darum, Parteien zu wählen, die unsere freiheitli­ch demokratis­che Grundordnu­ng schützen, die das verteidige­n, was wir mühsam erkämpft haben. Wofür Millionen Menschen ihr Leben gelassen haben. Wir müssen den Rechtsruck, den unsere Gesellscha­ft erlitten hat, korrigiere­n. ⓘ

Ewald Lienen, 63, wurde 1953 im ostwestfäl­ischen Liemke geboren. Lienen war von 1974 bis 1992 Profi Fußballer. Mit Mönchengla­dbach wur de er 1978 Vizemeiste­r, 1979 gewann er den UEFA Pokal. Als Trainer arbeitete er in der Bundesliga, aber auch in Spanien und Griechenla­nd. Aktuell ist er Techni scher Direktor beim Zweitliga Klub

St. Pauli.

Newspapers in German

Newspapers from Germany