Aichacher Nachrichten

Hilfe für Menschen, die nach einem Suizid zurückblei­ben

Ursula Mai und Regina Ellinger-Kiss unterstütz­en Hinterblie­bene, damit diese mit dem Geschehene­n weiterlebe­n können

- VON INA KRESSE (siehe

Sie glaubte, irgendwann kriegt er die Kurve. Aber das war nicht so. Eines Tages wurde der Arbeitskol­lege von Regina Ellinger-Kiss tot im Wald gefunden. Er hatte sich umgebracht, weil sie seine Liebe nicht erwidert hatte. Für die Frau war das damals ein schwerer Schlag. Schon lange kümmert sich Ellinger-Kiss inzwischen selbst um Hinterblie­bene von Suizidopfe­rn. Wie auch Ursula Mai, die einen ähnlichen Schicksals­schlag erlitten hatte.

Vor 17 Jahren gründeten die beiden Frauen in Augsburg die Selbsthilf­egruppe AGUS (Angehörige um Suizid). Sie ist damit ein weiterer regionaler Ableger, des bundesweit­en AGUS-Selbsthilf­evereins. Am Sonntag zum Weltsuizid­prävention­stag lädt der Augsburger Verein zu einem ökumenisch­en Gottesdien­st in der Moritzkirc­he ein Infokasten). „Im Moment kommen zwischen 15 bis 20 Leute zu unseren monatliche­n Treffen“, berichtet Ursula Mai. Sie leitet und moderiert die Sitzungen im Haus Tobias, dem Bildungs- und Begegnungs­zentrum der katholisch­en Klinikseel­sorge im Bistum Augsburg. Kollegin Ellinger-Kiss führt inzwischen eine eigene AGUS-Gruppe in Schongau. Ziel der Treffen ist es, nach einem Suizid den Trauernden eine Anlaufstel­le zu geben und sie zu unterstütz­en. Beide wissen nämlich, wie es ist, nach so einem unfassbare­n Ereignis alleingela­ssen zu werden.

Im Dezember werden es 20 Jahre, dass Mai ihren Bruder verlor. Er hatte mit einer Überdosis Medikament­e seinem Leben ein Ende gesetzt. Der Anfang 20-Jährige litt an einer narzisstis­chen Persönlich­keitsstöru­ng. „Wenn ich überlege, was ich damals hätte anders machen können, finde ich keine Antwort“, sagt Mai. Die Frage nach den „Warum“hänge untrennbar mit Schuldgefü­hlen zusammen. „Man fragt sich, ob man es hätte verhindern können.“Längst weiß sie, dass sie es nicht konnte. Ellinger-Kiss bestätigt das. Als ihr Bekannter sich damals wegen ihr umbrachte, plagten sie große Schuldgefü­hle. Hinzu kam, dass zur damaligen Zeit, es war anfang der 60er Jahre, der Suizid noch ein absolutes Tabuthema war.

„Das ging so weit, dass Angehörige den Arzt baten, Suizid nicht als Todesursac­he anzugeben, weil sonst die Lebensvers­icherung nicht gezahlt hätte“, erzählt die 80-Jährige. Sie selbst, damals eine junge Frau in seelischer Not, vertraute sich schließlic­h einem Pfarrer an. „Er sagte, mich träfe keine Schuld, aber ich konnte es nicht glauben.“Sie schaffte es erst, als sie von dem Geistliche­n die Absolution erteilt bekam. „Das brauchte ich für mich, trotzdem begleitete mich der Tod des Kollegen immer weiter.“

Hinterblie­bene plagten nicht nur die eigenen Schuldgefü­hle, hat Mai die Erfahrung gemacht. „Unterschwe­llig werden auch Angehörige für einen Suizid verantwort­lich gemacht.“Der Mensch suche eben nach einer Erklärung für das Unbegreifl­iche. „Bei einer Selbsttötu­ng kann man nun mal nicht sagen, das lag an einem Autounfall oder an einer Krebserkra­nkung.“Bei der Selbsthilf­egruppe weiß man, dass für jeden Suizid die Gründe und Anlässe einzigarti­g sind. Manche seien für Hinterblie­bene nachvollzi­ehbar, andere hingegen blieben ein Rätsel. Aber niemand habe das Recht, Hinterblie­benen die Schuld zu geben, wird betont.

Manchmal fühlten sich diese aber wie Trauernde zweiter Klasse, beschreibt es Mai. Gerade im Umgang mit Hinterblie­benen müsse noch viel passieren, finden beide Frauen. Sie wünschten sich mehr Offenheit und weniger Berührungs­ängste. „Dass die Leute es auch einfach mal aushalten können, wenn man einen Heulkrampf bekommt.“In der Selbsthilf­egruppe finden die Angehörige­n Verständni­s für ihre Situation, auf das sie im persönlich­en Umfeld nicht unbedingt stoßen. Sie tauschen sich untereinan­der aus, hören einander zu. Jeder Einzelne ziehe für sich dabei etwas heraus, erzählt Mai. Auch der Leiterin selbst helfen die Treffen nach wie vor. „Manchmal bricht bei den Gesprächen auch bei mir wieder etwas auf oder ich sehe etwas plötzlich aus einem anderen Blickwinke­l“, sagt sie. „Es ist ein ständiges Weiterwand­ern und mein Bruder ist immer dabei.“

Verarbeite­n könne man einen Suizid nie, sind Mai und EllingerKi­ss der Überzeugun­g. Weil Verarbeite­n auch Vergessen bedeute. „Vergessen kann man nicht. Aber es geht darum, wie man das Geschehene in sein Leben integriere­n und damit weiterlebe­n kann.“

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Foto: Annette Zoepf Ursula Mai (links) und Regina Ellinger Kiss betreuen Hinterblie­bene von Suizid opfern.

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