Im Alter hatte er allen etwas zu sagen
Der langjährige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler war ein kreativer Kopf und aggressiver Parteipolitiker. Erst spät wird er zum Versöhner und nachdenklichen Mahner. Jetzt ist er im Alter von 87 Jahren gestorben
Augsburg Er liebte die Provokation, und er liebte es, über Grenzen zu gehen. Heiner Geißler, der gestern in seinem Wohnort Gleisweiler in Rheinland-Pfalz im Alter von 87 Jahren gestorben ist, war das Gegenteil des langweiligen PolitikerTypus, der heute die Oberhand zu gewinnen scheint. Ein kreativer Kopf, ein Kämpfer, der auch vor Tiefschlägen nicht zurückschreckte, und im Alter ein Mahner und Versöhner – dieses politische Leben zählt zu den herausragendsten in der Bundesrepublik. Auch wenn Geißler nie eines der höchsten politischen Ämter bekleidet hat.
Tutzing im März 2005. Der Katholik Geißler leitet den Politischen Club der Evangelischen Akademie. Gast ist die Vorsitzende der CDU, eine gewisse Angela Merkel, von der damals niemand ahnt, welche Bedeutung sie eines Tages als Bundeskanzlerin gewinnen wird. Sie sagt: „Der Globalisierung können wir uns nicht entziehen, wir dürfen es auch nicht.“Da stellt ausgerechnet CDU-Mitglied Geißler eine Frage, die das eben Gesagte ins Zwielicht rückt: Ob sie es in Ordnung finde, wenn ein gut arbeitendes deutsches Unternehmen von einem US-Konzern übernommen und einfach zugemacht wird? Merkel muss einräumen, dass sie dafür keine Lösung hat. Und Geißler, der 2002 mit dem Bundestagsmandat sein letztes politisches Amt aufgegeben hat, legt mit einer einzigen Frage eine der großen Schwachstellen der Globalisierung offen. Zwei Jahre später gibt er, der seiner CDU stets die Treue hält, bekannt, dass er der globalisierungskritischen Organisation Attac beigetreten ist. „Der Kapitalismus ist genauso falsch wie der Kommunismus“, sagt Geißler. Er fordert eine „internationale sozial-ökologische Marktwirtschaft“.
So wird Geißler im Alter, mit zerknautschtem Gesicht und gebücktem Gang, mehr respektiert als je zuvor. Durch seine Moderation im Konflikt um das Bahnprojekt Stuttgart 21 gelingt es ihm, der Auseinandersetzung das Unversöhnliche zu nehmen. Ebenso schlichtet er Ta- rifkonflikte. Er wird zu einem anregenden Diskutanten in Versammlungen und Talkshows. Er findet eine Brücke zur Jugend. Und er schreibt Bestseller wie: „Was würde Jesus heute sagen?“
In seinen früheren Jahren ist Geißler dagegen einer der bissigsten Politiker in der alten, der Bonner Bundesrepublik. Als CDU-Generalsekretär der Jahre 1977 bis 1989 zögert er nicht, im Streit um die Aufstellung der Mittelstreckenraketen die SPD als mögliche „fünfte Kolonne der anderen Seite“zu bezeichnen. Von ihm stammt auch die fragwürdige, gegen die Friedensbewegung gerichtete Bemerkung: „Ohne den Pazifismus der 1930er Jahre wäre Auschwitz überhaupt nicht möglich gewesen.“Der damalige SPD-Chef Willy Brandt schießt zurück und sagt, Geißler sei „seit Goebbels“der „schlimmste Hetzer in diesem Land“.
Doch auch seinen Herrn und Meister schont Geißler nicht. Über eine umstrittene Aussage von CDUChef und Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Untersuchungsausschuss sagt der Generalsekretär: „Möglicherweise hat er einen ,Blackout‘ gehabt.“Seitdem ist das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden alten Freunden gestört. 1989, noch vor der deutschen Einheit, muss Geißler, der für die CDU drei erfolgreiche Wahlkämpfe organisiert hat, gehen.
Die Schärfe des Denkens, aber auch des Tons, die Geißler an den Tag legt, wird oft mit seiner jesuitischen Erziehung in Verbindung gebracht. Der 1930 in Oberndorf am Neckar geborene Sohn eines Oberregierungsrats macht sein Abitur am Jesuitenkolleg in St. Blasien im Schwarzwald. Er tritt dem Jesuitenorden als Novize bei, entscheidet sich nach vier Jahren aber doch dagegen, Mönch zu werden. Geißler, der später heiratet und Vater von drei Söhnen wird, studiert zunächst Philosophie an der Hochschule der Jesuiten in München und danach Jura in Tübingen. Er promoviert mit einer Arbeit über das Recht auf Kriegsdienstverweigerung.
Als junger Politiker gilt Geißler als modern und innovativ auf einem Feld, das in den deutschen Wirtschaftswunder-Jahren nicht im Zentrum stand – der Sozialpolitik. 1967 wird er Sozialminister in RheinlandPfalz, noch ehe Helmut Kohl dort das Amt des Ministerpräsidenten übernimmt. Geißler legt das erste Kindergartengesetz vor und regt die Gründung von Sozialstationen an, die heute teilweise seit über 40 Jahren funktionieren. Auch als Bundesfamilienminister in den 80er Jahren leistet er Pionierarbeit und führt ein Erziehungsgeld und einen Erziehungsurlaub ein. Viele ältere CDUPolitiker der Bonner Jahre machen nach 1989 noch in der DDR Karriere: Kurt Biedenkopf, Bernhard Vogel, Lothar Späth. Diesen Weg schlägt Geißler nicht ein.
Ihm bleibt es immer wichtig, selbstständig und unabhängig zu denken. Und zu leben. Die Kraft dafür findet er als Bergsteiger, Kletterer und – trotz eines schweren Unfalls im Jahr 1992 – als Gleitschirmflieger. „Das Bergsteigen hat mich innerlich unabhängig gemacht“, lautet eine Erkenntnis Geißlers. „Man wird zwar vom Alltag wieder eingeholt, wenn man herunterkommt, aber man kann ja auch wieder hinaufsteigen.“
„Der Kapitalismus ist genauso falsch wie der Kommunismus.“
„Das Bergsteigen hat mich innerlich unabhängig gemacht.“