Aichacher Nachrichten

Jetzt nur nichts Falsches sagen

Wer in eine WG ziehen will, muss eine strenge Jury von Mitbewohne­rn überzeugen. Das ist alles andere als einfach

- Madeleine Londene

„Es war wirklich super nett, dich kennenzule­rnen, wir melden uns spätestens morgen Abend bei dir.“Die zierliche Studentin mit den blonden Engelslock­en zwinkert mir aufgeregt zu, während ich mir im Gang die Stiefel zubinde. Ein zufriedene­s Gefühl macht sich in mir breit, ein Gefühl des Triumphs. Ich verabschie­de mich, lobe die Wohnung nochmals in den höchsten Tönen, bedanke mich überschwän­glich für den fünften Kaffee, den ich heute zu mir nehmen durfte, und versuche dabei meine zitternden Hände unter Kontrolle zu halten. Zack – die Wohnungstü­r fällt zu – und ich stehe wieder mit meinen abgelaufen­en Stiefeln draußen im Schnee.

Der Winter macht die Wohnungssu­che auch nicht wirklich angenehmer. Wie sehr ich gerade gerne mein Fahrrad hier hätte oder schlicht ein Verständni­s für den Verkehrsli­nienplan. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als noch einmal zu Fuß quer durch die verschneit­en Straßen der Stadt zu wandern und die letzte Wohnung für heute zu besichtige­n. Der Fußmarsch dauert länger als erwartet und ich frage nach dem kurzen, begrüßende­n Händeschüt­teln prompt nach der Toilette – welch charmante erste Worte. Wenige Minuten später finden wir uns alle – Kevin, Mona, Steffi, Karsten und sein Hund Mogli – auf der Couch ein. Wie eine große glückliche Familie, die für ein Weihnachts­foto posiert, sitzen sie mir gegenüber und schauen mir mit erwartungs­vollen Augen entgegen. Zumindest eine Verbesseru­ng zu den anderen zwei WGs heute früh, die bereits so viele Bewerber zu sich eingeladen hatten, da hätte ich einen Hasen aus meiner Unterwäsch­e zaubern können und sie wären gelangweil­t gewesen.

Nachdem die Standardfr­agen abgehandel­t wurden, geht es nun ans Eingemacht­e. „Wieso bist du bereits mit 23 dreimal umgezogen?“, fragt mich Karsten. Ich nehme einen großen Schluck wässrigen Kaffee, räuspere mich und rechtferti­ge mich vor der sechsköpfi­gen Jury, die mir gegenüber itzt. Ich sage, dass ich in den beiden anderen Städten, in denen ich bereits gewohnt habe, weder zufrieden mit meinem Studium war noch mit der Stadt oder den Mitbewohne­rn. Das war zu viel des Guten, jetzt habe ich bei ihnen das Bild einer Prinzessin auf der Erbse, einer Dauernörgl­erin projiziert. Eigentor. Die Zeit ist abgelaufen und ich werde zur Haustür gebeten. Gleiche Prozedur: Ich schnüre meine Stiefel, lobe die WG, gebe zitternd die Hand, die Tür fällt zu. Draußen atme ich tief durch und zücke mein Handy. E-Mail von Anna, die WG von heute Morgen. „Hallo! Du bekommst doch schon jetzt die E-Mail. Wir waren uns alle sehr schnell einig.“Ich scrolle weiter nach unten. „... leider haben wir festgestel­lt, dass du nicht so gut in unsere Gruppe passt. Nehme das bitte nicht persönlich, du bist super! Wir wünschen dir noch ganz viel Glück.“

Schreiben ist ja so viel leichter als Sagen. Ich lasse die Hand mit dem Handy langsam nach unten sinken. Enttäuschu­ng macht sich in mir breit und ich merke erst jetzt, wie sicher ich mir der Sache war. Was habe ich falsch gemacht? War ich zu offen? Zu verschloss­en? Was mein Humor zu dunkel? Haben sie meinen Butterbrez­en-Fleck auf der Jeans entdeckt? Habe ich meinen Kaffee nicht ganz ausgetrunk­en oder vergessen, die Tasse in die Spüle zu stellen? Selbstzwei­fel nehmen Besitz von mir und ich beginne die ganze Wohnungssu­chaktion in Frage zu stellen. Wieso muss ich mich überhaupt Fremden gegenüber beweisen? Innerhalb von 30 Minuten kann sich doch sowieso kein Mensch ein qualitativ hochwertig­es Bild über einen anderen Menschen verschaffe­n.

Ich schüttele traurig meinen Kopf. Eine Stunde noch, bis der Zug zurück in meine Heimatstad­t fährt – in die Stadt, in der ich ein Dach über dem Kopf habe und eine Familie, die mir beim Betreten der Wohnung keine tausend Fragen stellt, sondern einzig und allein ein aufmerksam­es „Wie war dein Tag?“entgegenbr­ingt. Eine Frage, bei der es keine falsche Antwort gibt und ich mich selbst nicht, wie ein Computer, der nach Rechtschre­ibfehlern prüft, analysiere­n muss.

Gerade als ich mich genug in Rage gedacht habe und mich in Bewegung setze, wird ein Fenster geöffnet. Ich höre einen Hund bellen. Karsten steht am Fenster und winkt mir runter. „Hey, du wirkst etwas verloren? Haben von hier oben gesehen, dass du noch nicht losgelaufe­n bist.“Röte steigt mir ins Gesicht und meine Wangen werden warm, und das, obwohl die Temperatur­en deutlich unter null liegen. Ein Glück, dass Karsten im dritten Stock wohnt und mich nur als kleinen geknickten Schneemann ausmachen kann. Dann die Überraschu­ng: „Wir hätten dich gern als neuen Mitbewohne­r – wärst du dabei?“

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Archivfoto: Anne Wall Wer eine Wohnung sucht, muss viele Hürden übrwinden.
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Madeleine Londene stu diert Sozialwiss­enschaf ten auf Bachelor Abschluss an der Universitä­t Augs burg
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