Jetzt nur nichts Falsches sagen
Wer in eine WG ziehen will, muss eine strenge Jury von Mitbewohnern überzeugen. Das ist alles andere als einfach
„Es war wirklich super nett, dich kennenzulernen, wir melden uns spätestens morgen Abend bei dir.“Die zierliche Studentin mit den blonden Engelslocken zwinkert mir aufgeregt zu, während ich mir im Gang die Stiefel zubinde. Ein zufriedenes Gefühl macht sich in mir breit, ein Gefühl des Triumphs. Ich verabschiede mich, lobe die Wohnung nochmals in den höchsten Tönen, bedanke mich überschwänglich für den fünften Kaffee, den ich heute zu mir nehmen durfte, und versuche dabei meine zitternden Hände unter Kontrolle zu halten. Zack – die Wohnungstür fällt zu – und ich stehe wieder mit meinen abgelaufenen Stiefeln draußen im Schnee.
Der Winter macht die Wohnungssuche auch nicht wirklich angenehmer. Wie sehr ich gerade gerne mein Fahrrad hier hätte oder schlicht ein Verständnis für den Verkehrslinienplan. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als noch einmal zu Fuß quer durch die verschneiten Straßen der Stadt zu wandern und die letzte Wohnung für heute zu besichtigen. Der Fußmarsch dauert länger als erwartet und ich frage nach dem kurzen, begrüßenden Händeschütteln prompt nach der Toilette – welch charmante erste Worte. Wenige Minuten später finden wir uns alle – Kevin, Mona, Steffi, Karsten und sein Hund Mogli – auf der Couch ein. Wie eine große glückliche Familie, die für ein Weihnachtsfoto posiert, sitzen sie mir gegenüber und schauen mir mit erwartungsvollen Augen entgegen. Zumindest eine Verbesserung zu den anderen zwei WGs heute früh, die bereits so viele Bewerber zu sich eingeladen hatten, da hätte ich einen Hasen aus meiner Unterwäsche zaubern können und sie wären gelangweilt gewesen.
Nachdem die Standardfragen abgehandelt wurden, geht es nun ans Eingemachte. „Wieso bist du bereits mit 23 dreimal umgezogen?“, fragt mich Karsten. Ich nehme einen großen Schluck wässrigen Kaffee, räuspere mich und rechtfertige mich vor der sechsköpfigen Jury, die mir gegenüber itzt. Ich sage, dass ich in den beiden anderen Städten, in denen ich bereits gewohnt habe, weder zufrieden mit meinem Studium war noch mit der Stadt oder den Mitbewohnern. Das war zu viel des Guten, jetzt habe ich bei ihnen das Bild einer Prinzessin auf der Erbse, einer Dauernörglerin projiziert. Eigentor. Die Zeit ist abgelaufen und ich werde zur Haustür gebeten. Gleiche Prozedur: Ich schnüre meine Stiefel, lobe die WG, gebe zitternd die Hand, die Tür fällt zu. Draußen atme ich tief durch und zücke mein Handy. E-Mail von Anna, die WG von heute Morgen. „Hallo! Du bekommst doch schon jetzt die E-Mail. Wir waren uns alle sehr schnell einig.“Ich scrolle weiter nach unten. „... leider haben wir festgestellt, dass du nicht so gut in unsere Gruppe passt. Nehme das bitte nicht persönlich, du bist super! Wir wünschen dir noch ganz viel Glück.“
Schreiben ist ja so viel leichter als Sagen. Ich lasse die Hand mit dem Handy langsam nach unten sinken. Enttäuschung macht sich in mir breit und ich merke erst jetzt, wie sicher ich mir der Sache war. Was habe ich falsch gemacht? War ich zu offen? Zu verschlossen? Was mein Humor zu dunkel? Haben sie meinen Butterbrezen-Fleck auf der Jeans entdeckt? Habe ich meinen Kaffee nicht ganz ausgetrunken oder vergessen, die Tasse in die Spüle zu stellen? Selbstzweifel nehmen Besitz von mir und ich beginne die ganze Wohnungssuchaktion in Frage zu stellen. Wieso muss ich mich überhaupt Fremden gegenüber beweisen? Innerhalb von 30 Minuten kann sich doch sowieso kein Mensch ein qualitativ hochwertiges Bild über einen anderen Menschen verschaffen.
Ich schüttele traurig meinen Kopf. Eine Stunde noch, bis der Zug zurück in meine Heimatstadt fährt – in die Stadt, in der ich ein Dach über dem Kopf habe und eine Familie, die mir beim Betreten der Wohnung keine tausend Fragen stellt, sondern einzig und allein ein aufmerksames „Wie war dein Tag?“entgegenbringt. Eine Frage, bei der es keine falsche Antwort gibt und ich mich selbst nicht, wie ein Computer, der nach Rechtschreibfehlern prüft, analysieren muss.
Gerade als ich mich genug in Rage gedacht habe und mich in Bewegung setze, wird ein Fenster geöffnet. Ich höre einen Hund bellen. Karsten steht am Fenster und winkt mir runter. „Hey, du wirkst etwas verloren? Haben von hier oben gesehen, dass du noch nicht losgelaufen bist.“Röte steigt mir ins Gesicht und meine Wangen werden warm, und das, obwohl die Temperaturen deutlich unter null liegen. Ein Glück, dass Karsten im dritten Stock wohnt und mich nur als kleinen geknickten Schneemann ausmachen kann. Dann die Überraschung: „Wir hätten dich gern als neuen Mitbewohner – wärst du dabei?“