Klauen statt trauern
Prozess Eine 63-Jährige wird immer wieder wegen Diebstahls erwischt. Sie stiehlt nach schweren Schicksalsschlägen. Wie das Gericht in Neuburg den Fall beurteilte
Neuburg Dieser Frau hat das Leben schon übel mitgespielt. Wie ein Häuflein Elend sitzt sie auf der Anklagebank des Neuburger Amtsgerichts. Neun Eintragungen im Bundeszentralregister hat sie bereits, fast immer geht es um dasselbe: Diebstahl. Und auch diesmal hat sie wieder etwas gestohlen – zwei Paar Socken. Doch die 63-Jährige klaut nicht einfach so. Immer gehen ihren Taten schwere Schicksalsschläge, ja sogar Todesfälle, voraus.
Im Gutachten, das Richterin Bettina Mora verliest, heißt es: Das Leben der Frau, die einst in Russland lebte, sei von Entbehrungen und Ausgrenzung geprägt. Ihre ersten beiden Kinder starben, ebenso der Ehemann. Sie siedelte nach Deutschland um, fand aber zunächst keine Arbeit. Sie geriet in finanzielle Probleme und litt unter einer mittleren bis schweren Depression. Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, geboren aus der Angst, ihren beiden Töchtern nicht genug bieten zu können, plagten sie. Da kam es zur ersten Diebstahlswelle, für die sie zuerst Geld- und dann Freiheitsstrafen auf Bewährung erhielt. Als 2015 die Schwester der Angeklagten starb, kamen die Verluste wieder hoch und weitere Diebstähle folgten. Im April 2016 schied eine Bekannte der Frau aus dem Leben und dann kippte auch noch ihr Enkel in der Schule bewusstlos um. In Sorge und vom Schlimmsten ausgehend, zog die Frau in Neuburg los – und klaute schließlich zwei Paar Socken, die sie überhaupt nicht brauchte.
Immer wenn etwas Schreckliches passiere, im Stress, in Ausnahmesituationen würde sie so etwas tun, erzählt die Angeklagte vor Gericht und versucht erst gar nicht, die Tat abzustreiten. Ihre Verteidigerin, Petra Schleer-Leitmayr, führt aus, dass ihre Mandantin meist Dinge klaue, die auffällig und von geringem Wert seien, zum Beispiel ein Kilogramm Tomaten oder ein Pfund Hackfleisch. Manchmal hätte die Frau sogar bemerkt, dass sie beobachtet werde, und hätte – wie zur Selbstbestrafung – trotzdem zugegriffen. Schwerwiegende Taten seien von der 63-Jährigen nicht zu erwarten.
Wie die Angeklagte berichtet, habe sie sich so geschämt, dass sie lange überhaupt nicht mehr rausgegangen sei. In jedem Geschäft hatte sie Angst, erkannt zu werden. Sie nahm überhaupt nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teil. Das sei nun besser, seit sie in Therapie sei, so die 63-Jährige. Die Therapie hat die Frau begonnen, kurz nach der jüngsten Tat. Danach ist sie nicht mehr straffällig geworden.
Die Staatsanwaltschaft fordert eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung, die Verteidigung eine Geldstrafe im untersten Bereich. In ihrem „letzten Wort“fleht die Frau: „Bitte lassen Sie mich noch mal gehen. Ich mache alles!“Die Frau fürchtet, dass bei einer Gefängnisstrafe ihre Familie von ihren Taten erfährt. Die Richterin verurteilt die Angeklagte zu einer Bewährungsstrafe von drei Monaten. Die Frau muss sowohl ihre psychiatrische Behandlung als auch ihre Psychotherapie fortsetzen. Mora: „Sie tun mir persönlich leid. Sie haben ein schweres Leben gehabt. Ich halte Ihre Sozialprogose gerade noch für positiv. Der einzige Grund, warum ich Sie nicht einsperre, ist, dass die Gutachterin eine Möglichkeit sieht, Sie zu therapieren.“