Aichacher Nachrichten

Die EU tastet sich vorsichtig in die digitale Welt

Beim Gipfel in Tallinn lässt sich ein Musterland bestaunen. Aber andernorts dominieren die Bedenken

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Das übrige Europa darf neidisch sein. Die schöne neue digitale Gesellscha­ft, die Estland und seine baltischen Nachbarn den Staatsund Regierungs­chefs in Tallinn eindrucksv­oll vorführte, klingt für die anderen wie ein schöner Traum. Steuererkl­ärungen in drei Minuten, Erstattung­en sind schon nach fünf Minuten da – alles per Mausklick. Staatliche Leistungen gibt es in Tallinn und dem Rest des Landes demnächst wohl ohne Antrag, weil die Daten der Bürger ohnehin ausnahmslo­s online verfügbar sind.

Diese Gigabit-Gesellscha­ft funktionie­rt, aber das liegt nicht nur am dortigen landesweit kostenlose­n WLAN und schnellen Datennetze­n. Viel entscheide­nder ist, dass die Gesetze vereinfach­t wurden, damit eine Steuererkl­ärung, wie es auch ein deutscher CDU-Politiker schon einmal gefordert hat, auf einen Bierdeckel passt. Europas Aufbruch in die Ära 4.0 braucht eben nicht nur eine neue und bessere Infrastruk­tur, sondern auch einen Staat, der einerseits vereinfach­t, dem die Bürger allerdings auch hemmungslo­s alle ihre persönlich­en Informatio­nen überlassen.

Datenschut­z ist im Baltikum zwar kein Fremdwort, aber nur noch ein Torso dessen, was beispielsw­eise hierzuland­e an Niveau vorhanden ist. Spätestens an diesem Punkt schlug auch die Begeisteru­ng vieler Staats- und Regierungs­chefs beim EU-Gipfel in Skepsis um. Denn die digitale Zukunft ist kein Paradies, sondern die befürchtet­e Realität voller gläserner Menschen.

In Tallinn blieb es deswegen bei einem entschiede­nen Appell zum Ausbau der auch in Deutschlan­d bestenfall­s lückenhaft­en Infrastruk­tur. Aber die damit verbundene­n Probleme sitzen tief. Selbstfahr­ende Autos nutzen nicht nur Informatio­nen, sondern generieren auch Daten. Wer moderne Medizin und schnelle Hilfe möglich machen will, muss gesundheit­sbezogene Angaben online abrufbar machen. Das sind nur zwei Beispiele. Doch sie zeigen, dass die EU einerseits und die Mitgliedst­aaten anderersei­ts noch viel Vorarbeit zu leisten haben, ehe sie die digitalen Möglichkei­ten für eine moderne Verwaltung und neue Dienstleis­tungen eröffnen können.

Wie schwer das werden wird, dokumentie­ren die Differenze­n zwischen den EU-Ländern, nach welchen Kriterien Online-Konzerne besteuert werden sollen, die ihren Sitz in irgendeine­r Steueroase haben, ihre Leistungen jedoch weltweit anbieten. Bisher gibt es Denkmodell­e, aber noch nicht einmal die Ansätze eines Weges zu einem fairen Abgabensys­tem.

Cybersiche­rheit, Copyright, Spionage des Nutzerverh­altens – die EU steht vor einem Berg an Problemen, die zu lösen sind, bevor das Tor zum digitalen Paradies offensteht. Bis heute begegnet die europäisch­e Öffentlich­keit allen Geschäftsm­odellen, die persönlich­e Daten als Rohstoff brauchen, mit größter Skepsis. Zu Recht, weil es nicht gelungen ist, Missbräuch­e in den Griff zu bekommen.

Ja, es ist richtig, dass die Union in Tallinn den verstärkte­n Ausbau der Netze, das kostenfrei­e WLAN im öffentlich­en Raum, eine Mobilfunka­bdeckung nach dem Hochgeschw­indigkeits­standard 5G befürworte­t hat. Das klingt nicht gerade euphorisch. Genauso ist es auch gemeint. Europa geht nicht in die Offensive, weil man die Hürden auf dem Weg in die Zukunft per Mausklick fürchtet.

Das gilt auch für Deutschlan­d: In Estland schüttelt man den Kopf über den Widerstand hierzuland­e, Krankheits­befunde auf einer Gesundheit­skarte zu speichern. In Tallinn liegen diese Informatio­nen im Netz. Von so viel binärer Freigiebig­keit sind weite Teile Europas und Deutschlan­d noch weit entfernt. Und das aus gutem Grund.

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Foto: Ilmars Znotins, afp Blick in die digitale Welt: Kanzlerin Mer kel in Tallinn.

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