Aichacher Nachrichten

Senioren sind im Alltag benachteil­igt

Der Tag der älteren Menschen macht am Sonntag auf die Bedürfniss­e der Generation 65 Plus aufmerksam. Altersexpe­rtin Ursula Lenz erklärt, was sich ändern muss

- Interview: Sarah Ritschel

Frau Lenz, Sie sind Sprecherin der Senioren-Organisati­onen in Deutschlan­d. Nach Angaben des Zentrums für Altersfrag­en steigt mit zunehmende­m Alter das Gefühl, im Alltag benachteil­igt zu sein. Hat es die ältere Generation wirklich so schwer?

Ursula Lenz: Zunächst muss man betonen, dass sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n vieles zum Positiven verändert hat. Politik und Gesellscha­ft achten heute viel mehr auf die Bedürfniss­e und Handicaps älterer Menschen. Trotzdem haben sie viele Nachteile in ihrem Lebensumfe­ld.

Welche?

Lenz: Der wichtigste ist natürlich, dass es immer noch an Barrierefr­eiheit fehlt. Es ist zum Beispiel eine Katastroph­e, dass Ärzte bis heute nicht verpflicht­et sind, barrierefr­eien Zugang zu ihren Praxen zu ermögliche­n. Meine Eltern waren bei einem Augenarzt, dessen Praxis im ersten Stock ohne Aufzug lag. Aber es war nun mal der einzige Augenarzt weit und breit, deshalb mussten sie trotzdem hin. Da müssen sich die Gesetze ändern.

Und wozu führen solche Beeinträch­tigungen?

Lenz: Barrierefr­eiheit ist eine wesentlich­e Voraussetz­ung dafür, dass ältere Menschen am gesellscha­ftlichen Leben teilnehmen können. Im schlimmste­n Fall können sie sich nicht engagieren, nicht ihre Post erledigen, nicht zu Arzt gehen – und das, wo wir immer älter werden und die Phase des aktiven Alters länger dauert denn je. Vor 50 Jahren haben die Menschen im Schnitt acht Jahre Rente bezogen, heute sind es 19.

Nehmen wir an, ein Rentner bricht zu seinem Wocheneink­auf auf. Auf welche Schwierigk­eiten trifft er?

Lenz: Abgesehen davon, dass es an vielen Orten gar keine Einkaufsmö­glichkeite­n in fußläufige­r Nähe gibt, sind die Preisschil­der im Supermarkt oft nicht ohne Lupe zu lesen. Die Schrift auf den Etiketten sind viel zu klein, sodass Senioren andere um Hilfe bitten müssen, was die meisten nicht gern tun. Ein weiteres Problem: Viele Geschäfte ha- ben keine Kundentoil­etten und es gibt viel zu wenige Sitzmöglic­hkeiten. Dazu kommt, dass Bäckereien oder Cafés heute oft auf Selbstbedi­enung setzen. Einem älteren Menschen, der nicht gut zu Fuß und vielleicht aufgrund einer Erkrankung etwas zittrig ist, fällt es aber schwer, seine Kaffeetass­e sicher zum Tisch zu bringen.

Warum haben Ältere oft ein Problem damit, andere um Unterstütz­ung zu bitten und Hilfe anzunehmen?

Lenz: Es ist nicht leicht, sich einzugeste­hen, dass man nicht mehr so selbststän­dig ist wie früher. Deshalb wollen zum Beispiel auch so viele ältere Menschen keinen Einkaufstr­olley oder keinen Rollator benutzen, obwohl diese ihre Mobilität erhöhen könnten. In den eigenen vier Wänden geht es weiter. So lehnen viele, auch hochaltrig­e Menschen es ab, sich einen Hausnotruf installier­en zu lassen, obwohl er zu ihrer Sicherheit beiträgt. Das ist für Verwandte oft schwer nachzuvoll­ziehen.

Besonders Familienmi­tglieder würden ihren älteren Angehörige­n aber gern helfen. Wie sollen sie also reagieren? Lenz: Es gibt Situatione­n, in denen Angehörige, also auch Kinder, durchaus rigoros sein dürfen. Sie sollten deutlich machen, dass auch sie Bedürfniss­e haben, dass sie sich zum Beispiel Sorgen machen, wenn sie die Eltern öfter anrufen und diese nicht ans Telefon gehen. Sie sollten versuchen, ihren hilfebedür­ftigen Angehörige­n klarzumach­en, dass es ihnen niemand übel nimmt, wenn sie etwas nicht mehr sehen oder nicht mehr allein können, aber dass sie auch lernen müssen, Unterstütz­ung anzunehmen. Wichtig ist, dass man über solche Dinge spricht und gemeinsam eine Lösung findet.

Oft fällt es in der Familie aber nicht leicht, solche Dinge anzusprech­en... Lenz: Es hilft aber niemandem, wenn man die Probleme unter den Teppich kehrt. Ein Weg könnten sein, den Eltern zu vermitteln: „Du hast dein ganzes Leben für uns gearbeitet. Es ist völlig in Ordnung, wenn wir jetzt etwas für dich tun.“Das zeigt ja letztlich auch, dass Kinder ein Interesse an ihren Eltern oder Großeltern haben. Zuneigung braucht manchmal ein klares, vielleicht sogar hartes Wort.

Was muss sich ändern, damit Senioren auch außerhalb ihres persönlich­en Umfelds im Alltag klarkommen?

Lenz: Mir ist völlig klar, dass Barrierefr­eiheit nicht von heute auf morgen realisiert werden kann. Aber oft würden schon kleinere Dinge Erleichter­ung bringen – genügend Sitzmöglic­hkeiten im öffentlich­en Raum und in Geschäften zum Beispiel. Da fehlt oft noch das Bewusstsei­n. Mit 25 oder 30 Jahren kann man sich nicht vorstellen, wie schwer es ist, sich mit steifen Knien zu bewegen. Wenn man noch nie einen Bandscheib­envorfall oder Hexenschus­s hatte, weiß man nicht, was für wahnsinnig­e Schmerzen das sind. Unsere Position ist, dass nicht nur ältere Menschen davon profitiere­n, wenn Gebäude, Straßenbah­nhaltestel­len und Bahnhöfe barrierefr­ei ausgebaut sind und es genügend Sitzmöglic­hkeiten gibt – sondern auch Menschen mit Behinderun­g zum Beispiel oder Familien mit Kinderwage­n.

Zur Person Ursula Lenz, 65, ist Spre cherin der Bundesarbe­itsgemeins­chaft der Senioren Organisati­onen (BAGSO). Über 100 Verbände sind darin Mitglied. Die BAGSO setzt sich dafür ein, dass Älte re selbstbest­immt leben können und dass das Miteinande­r der Generation­en funktionie­rt.

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Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa Ohne Pause geht es bei vielen Senioren nicht, wenn sie unterwegs sind. Deshalb ist es wichtig, dass sie auch Sitzplätze vorfinden.

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