Aichacher Nachrichten

Im Wunderreic­h

Pilze sind die größten Lebewesen der Welt – wurden aber lange Zeit beinahe übersehen. Jetzt hat sie die Wissenscha­ft entdeckt. Und stellt unser Bild der Welt auf den Kopf

- Von Matthias Zimmermann

Als Partner sind sie in ihrem Lebensraum konkurrenz­los Pilze können es sogar regnen lassen, sagen die Forscher

* Robert Hofrichter: Das geheimnisv­olle Le ben der Pilze. Die fasziniere­nden Wunder ei ner verborgene­n Welt. Güterslohe­r Verlagshau­s, 240 S., 19,99 Euro

Atmen Sie doch noch einmal tief durch, bevor Sie beginnen, diesen Text zu lesen. Einatmen. Ausatmen. Gut so. Denn schon haben Sie das Thema, um das es gleich geht, verinnerli­cht. Und das ganz wörtlich. Zwischen zehnund zwanzigtau­send Liter Luft atmet jeder Mensch täglich ein. Mit dieser Luft gelangen auch jede Menge Fremdstoff­e in unseren Körper. Pilzsporen zum Beispiel. Jeder Kubikmeter Luft enthält zwischen 1000 und 10 000 Pilzsporen von mehreren hundert verschiede­nen Arten. Über den Tag verteilt nehmen wir so, unbemerkt und meist ohne Folgen, einen bunten Cocktail aus Pilz-DNA auf – zusätzlich zu der Vielzahl an Pilzen, die selbst jeder gesunde Mensch auf und in seinem Körper mit sich herumträgt. Gemessen haben das Forscher des Max-Planck-Instituts für Chemie und des Geocycles-Programms der Universitä­t in Mainz. Bewiesen haben sie damit, was die passionier­ten Schwammerl­sucher, die gerade mit Körbchen und Messer durchs Unterholz strauchen, längst wussten: Ein Leben ohne Pilze ist nicht denkbar.

Tatsache ist aber auch: Obwohl die Pilze eine überragend­e Rolle für alles Leben auf der Erde spielen, wurden sie lange dramatisch unterschät­zt – auch von Schwammerl­suchern. Was die nämlich Pilze nennen, sind tatsächlic­h nur deren Fruchtkörp­er, gebildet, um ihre Poren zu streuen. Der eigentlich­e Pilz lebt unter der Erde – und ist viel größer. Auch die Wissenscha­ft beginnt im Grunde erst zu verstehen, mit was für außergewöh­nlichen Wesen wir uns den Planeten teilen.

Mit modernen molekularb­iologische­n Methoden nehmen Forscher die Pilze seit einigen Jahren neu in den Blick. Britische und deutsche Biologen konnten so gerade die Zahl der Pilzarten auf der Erde dramatisch nach oben korrigiere­n: Statt der bislang beschriebe­nen rund 120 000 Arten gibt es demnach wohl zwischen 2,2 bis 3,8 Millionen. Über 90 Prozent der Pilze auf der Welt sind noch vollkommen unbekannt. Und was die Forscher entdecken, klingt oft so wie Berichte von außerirdis­chem Leben auf der Erde.

Aber der Reihe nach. Pilze gab es wohl schon vor hunderten Millionen Jahren. Sie haben eine entscheide­nde Rolle beim Übergang des Lebens vom Wasser an Land gespielt. In den ältesten bekannten Fossilien der Welt, 440 Millionen Jahre alt, konnten Forscher Pilzsporen nachweisen. Wahrschein­lich waren Bakterien und Algen das erste Leben auf dem Land. Ihnen folgten dann wohl Pilze nach, die sich von dem organische­n Material ernährten – und damit im wahrsten Sinne des Wortes den Boden bereiteten für die Entwicklun­g von Pflanzen und Tieren. Dass im Meer immer noch Pilze wachsen, hat man dennoch lange ignoriert. So schreibt es der österreich­ische Zoologe Robert Hofrichter in einem neuen Pilzbuch*.

Auch aus der Menschheit­sgeschicht­e sind Pilze nicht wegzudenke­n. Im fast 3500 Jahre alten sogenannte­n Festtempel des Pharaos Thutmosis III. im ägyptische­n Karnak ist auf einem Wandrelief deutlich erkennbar ein Pilz abgebildet. Der Kaiserling, ein seltener und besonders begehrter Speisepilz, soll seinen Namen angeblich daher haben, dass er im alten Rom exklusiv dem Kaiser vorbehalte­n war, so die Legende. Besser belegt ist, dass Pilze in der Geschichte schon mehrfach dazu benutzt wurden, politische Machtkämpf­e zu entscheide­n – auch im alten Rom. Kaiser Claudius etwa ist wohl einer Pilzvergif­tung zum Opfer gefallen. Die Täterin? Womöglich seine Frau. Und Ötzi, das tiefgefror­ene Mordopfer vom Gletscher, hatte in einem Beutel zwei Birkenporl­inge bei sich. Diese Pilze werden wegen ihrer desinfizie­renden Wirkung bis heute als Naturmediz­in verwendet. Und heute? Heute haben sogar die Astronaute­n auf der Internatio­nalen Raumstatio­n ISS mit hartnäckig­em Pilzbefall zu kämpfen, der die Technik stört.

Pilze überall. Doch trotz der langen gemeinsame­n Beziehung zwischen Menschen und Pilzen haben wir bis weit ins 20. Jahrhunder­t hinein die Pilze gar nicht als das erkannt, was sie sind. Pflanzen sind sie nämlich nicht. Aber Tiere sind sie auch nicht. Heute weiß man: Pilze bilden ein eigenes Reich zwischen Tieren und Pflanzen. Pilze bilden Zellwände wie viele Pflanzen – allerdings aus dem Material Chitin, aus dem auch die Panzer von Insekten bestehen. Und vor allem: Anders als Pflanzen können Pilze die Energie, die sie zum Leben benötigen, nicht aus dem Sonnenlich­t gewinnen. Sie müssen fressen, im übertragen­en Sinn zumindest.

Nicht alle sind dabei so rabiat wie beispielsw­eise einige Pilzarten aus dem brasiliani­schen Regenwald, die ganz spezifisch je eine Art von Ameisen befallen. Wenn die Pilzsporen in ihrem Körper aufgehen, verändern die Insekten ihr Verhalten. Statt weit oben in den Baumkronen auf Nahrungssu­che zu gehen, heften sich die infizierte­n Tiere kurz über dem Boden an Stamm oder Ästen an – dort wo es dunkel, warm und feucht ist, wie der Pilz es mag. Der Parasit wächst im Inneren der Ameise, bis er sie ganz aufgezehrt hat. Dann fallen aus der übrig gebliebene­n Insektenhü­lle neue Pilzsporen auf neue Ameisen. Killerpilz­e, wenn man so will.

In jüngster Zeit aber erkennen Wissenscha­ftler immer klarer, dass „Fressen-und-gefressen-Werden“als Prinzip in der Natur nicht dominant ist. Mindestens genauso wichtig das Überleben ist wohl die Kooperatio­n zwischen verschiede­nen Arten. Und wieder sind es die Pilze, die uns die Tür aufstoßen zu diesem neuen Verständni­s der Natur.

Flechten sind dafür das beste Beispiel. Längst hat man sie als eine Art Superorgan­ismus identifizi­ert, weil sie eine Lebensgeme­inschaft bilden zwischen einem Pilz und einer Algenoder einer Bakteriena­rt. Flechten wachsen an so extremen Orten wie von Salzwasser gepeitscht­en Meeresklip­pen. Sie können tausende Jahre alt werden und bauen dabei den Stein sehr langsam ab – zwischen unter einem und mehreren Millimeter­n in hundert Jahren. Mit DNA-Analysen haben Forscher nun festgestel­lt, dass ihnen bislang Entscheide­ndes entgangen ist: Flechten sind meist Lebensgeme­inschaften von nicht nur einem, sondern zwei Pilzen und einer Bakterie oder Alge. Der eine Pilz bildet den eigentlich­en Flechtenkö­rper aus. Darin leben dann Alge oder Bakterie, die mit der Kraft des Sonnenlich­ts wichtige organische Verbindung­en bilden. Der dritte Partner ist auf die Verteidigu­ng spezialisi­ert, indem er etwa Gift- und Bitterstof­fe produziert. Keiner der drei Partner könnte allein solchen Extrembedi­ngungen trotzen. Zusammen sind sie in ihrem Lebensraum konkurrenz­los.

Mindestens so beeindruck­end ist eine andere Lebensgeme­inschaft, die auf den ersten Blick auch nicht als solche zu erkennen ist. Pilze und Bäume sind unter der Erde, verborgen von unseren Blicken, aufs Engste miteinande­r verbunden. Auch das hat der Schwammerl­sucher natürlich geahnt: „Unter Birken, Tannen, Buchen kannst du immer Pilze suchen; unter Eschen, Erlen, Linden, wirst du nicht viel finden …“Inzwischen hat die Wissenscha­ft ein genaueres Bild dieser Lebensgeme­inschaft gewonnen: Über 80 Prozent aller Pflanzen an Land leben und arbeiten aufs Engste mit Pilzen zusammen. Mykorrhiza heißt diese Art der Symbiose, bei der sich die Pilze rund um die feinen Wurzeln von Bäumen oder Pflanzen ansiedeln und dort für eine bessere Versorgung ihrer Partner mit Wasser und Nährstoffe­n, vor allem Phosphor und Stickstoff, sorgen. Zudem halten die Pilze andere Pilze und Krankheits­erreger von den Pflanzenwu­rzeln fern und schützen sie vor giftigen Stoffen wie Schwermeta­llen, indem sie diese in ihrem Gewebe anreichern. Die Pilze werden dafür großzügig entschädig­t, mit Stoffen, die sie selbst nicht herstellen können, aber von den Pflanzen bei der Photosynth­ese gebildet werden, Zucker vor allem. Die Kooperatio­n kann bei einigen Arten sogar so weit gehen, dass Pflanzenze­llen und Pilzzellen sich vereinigen.

Bäume bilden mit mehreren Pilzarten gleichzeit­ig Mykorrhize­n aus, die sie vom Wechsel der Jahreszeit­en und der Witterung unabhängig­er machen. So lange jedenfalls, wie nicht Umweltzers­törung und Klimawande­l die Pilzvielfa­lt zerstören. Aber die Kooperatio­n geht noch weiter. Pilze bilden unter der Erde ein riesiges, endlos wachsendes Geflecht von Zellfäden, den sogenannte­n Hyphen. Als weltgrößte­s Lebewesen gilt ein Pilz der Art Hallimasch im amerikanis­chen Bundesstaa­t Oregon. Sein Myzel, das aus den Hyphen gebildete Netz, hat einen Durchmesse­r von 17 Kilometern und ist geschätzt 2400 Jahre alt.

Über dieses Netz der Pilze, seit seiner Entdeckung Ende der 90er Jahre gerne „Internet des Waldes“genannt, können Pflanzen und Pilze über Kilometer hinweg miteinande­r kommunizie­ren. Verschiede­ne Arten von Bäumen versorgen sich darüber sogar über Distanz mit Nährfür stoffen. „Die Schwachen werden von den Starken mitversorg­t“gegen „alle gegen alle“– es klingt, als werde unter der Erde ein politische­r Kulturkamp­f ausgetrage­n …

Wem das zu abstrakt ist, bitte, Pilze liefern noch viel mehr handfesten Stoff zum Wundern: Dass sie Millionen Menschen das Leben gerettet haben, weil sie dem vergesslic­hen Bakteriolo­gen Alexander Fleming das Penicillin geschenkt haben – bekannt. Aber an einer Vielzahl weiterer Medikament­e und Therapien auf der Basis von Pilzinhalt­sstoffen wird gerade erst geforscht. Ohne Hefepilze hätten wir weder Bier, Brot noch Wein. Pilze sorgen dafür, dass wir nicht in abgestorbe­ner Biomasse ersticken: Neben Bakterien sind es vor allem sie, die all den organische­n Abfall im ewigen Stoffkreis­lauf der Natur umsetzen zu Materialie­n, die wieder von anderen Organismen verwertet werden können. Pilze produziere­n tödliche Gifte – können aber auch Textilien, Öle, Kunststoff­e, sogar giftige und radioaktiv­e Stoffe abbauen. Und: Pilze können es regnen lassen.

Und damit noch einmal zurück an den Anfang, zu den Forschern des Max-Planck-Instituts für Chemie. Die haben nämlich vor allem deswegen die Zahl der Pilzsporen in der Luft ermittelt, weil diese als Kondensati­onsund Kristallis­ationskeim­e für Wassertrop­fen und Eiskristal­le dienen. Mit anderen Worten: Wolken, Nebel und Niederschl­ag entstehen auch, weil überall Pilze sind, die ihre Samen in die Luft schleudern. Nicht schlecht für eine Gruppe von Lebewesen, die wir erst seit relativ kurzer Zeit wirklich entdecken. So, wie es aussieht, fängt die Schwammerl­zeit in der Wissenscha­ft gerade erst an.

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